Diego Maradona (†60): Mit dem Ball war er sicher - ohne ihn schutzlos

Von Reue keine Spur, auch Jahrzehnte später nicht. Diego Maradona hat ihn nie bedauert, diesen einen Moment, als er den Arm neben seinen Kopf hob und den Ball zwischen die Pfosten faustete. "Ich wusste, es war nicht korrekt, aber wenn du an den Ball kommen willst, geht die Hand eben von alleine mit."
So schilderte Maradona diese Szene. Aus dem Jahr 1970, von einem Kick im Parque Saavedra, der Grünanlage am Nordrand von Buenos Aires, als er zehn war. Als die Hand Gottes noch die eines Kindes war.
Maradonas schönstes Geschenk: Ein Lederball
Die Heimat des Pelusa, wie sie ihn damals noch nannten, den Zottelkopf, war am anderen Ende der Stadt, im Süden, in Villa Fiorito. Ein Viertel von einfachen Leuten, Arbeitern wie Papa Diego, der tagein, tagaus zu seiner Schicht in die Mehlfabrik fuhr. Kein ertragreicher Job, aber einer, der dafür sorgte, dass die Familie nicht hungern musste. Dalma, seine Frau, Spitzname "Tota" – und die acht Kinder.
Mittendrin der kleine Diego, das fünfte Kind, der nie etwas anderes wollte als spielen, Fußball spielen. Das schönste Geschenk seines Lebens, sagte er einmal, bekam er mit drei Jahren: Sein erster Lederball, den er untertags zum Kicken auf die Siete Canchitas mitnahm, die Brachflächen hinter dem Elternhaus. Und in der Nacht ins Bett zum Kuscheln. Nur der Ball brachte ihm Geborgenheit. Mit dem Ball war er sicher. Ohne ihn schutzlos. So war es für den Rest seines Lebens.

Ende der 70er war Maradona in seiner Heimat längst ein Star
Dann ging alles ganz schnell. Mit elf stand er das erste Mal in der Zeitung, als Wunderkind, wenn auch falsch geschrieben, Caradona. Mit 15 das Erstliga-Debüt, mit 16 Einstand in der Nationalmannschaft, mit 17 große Hoffnungen auf eine Berufung zur Heim-WM 1978. Doch dass ihn El Flaco, der Dürre, wie Cesar Luis Menotti hieß, kurzfristig aus dem erweiterten Kader strich, weil er ihm zu jung war und zu unreif, das verzieh ihm Maradona nie mehr. Dass sie gemeinsam 1979 die U20-WM gewannen, es war ein schwacher Trost.
In seiner Heimat war Maradona freilich längst der Star, El pibe de oro, der Goldjunge, und das in jeder Hinsicht. Spätestens mit seinem Wechsel zu den Boca Juniors 1981 war Maradona eine fleischgewordene Gelddruckpresse geworden. Verantwortlich dafür: sein Weggefährte aus Jugendtagen, der geschäftstüchtige Berater Jorge Cyterszpiler. Für Interviews mit Zeitungen nahm Maradona 1.000 Dollar, mit TV-Sendern 5.000, für die Autogrammstunde einer Uhrenfirma in Tokio 40.000 – plus Flug, Kost und Logis. Längst residierte Maradona in einer mondänen Palastvilla im Promi-Viertel Devoto, und als es 1982 zur WM nach Spanien ging, reservierte Maradona in einem Hotel in Barcelona 39 Zimmer für 51 Personen, seinen engsten Zirkel aus Familie und Freunde.
Die WM 1982 wird für Argentinien zum Fiasko
Die WM in Spanien wurde zu einem Fiasko, erst eine durchwachsene Vorrunde, die man als Zweiter noch überstand. Dann in diesem damaligen Konstrukt einer sonderbaren Zwischenrunde die Begegnungen gegen Italien und Brasilien, in der letalsten aller Todesgruppen.
Argentiniens erstes Spiel gegen Italien, man muss darauf nochmal eingehen, weil es bis heute ein schauriges Exempel dafür gilt, wie ungeschützt Maradona in seiner Zeit als Freiwild seinen Jägern ausgeliefert war, wie hemmungslos und ungestraft ihn die Gegenspieler bis zum Exzess umtreten durften. In jenem Spiel sah sein Widersacher Claudio Gentile in der ersten Minute Gelb. Gentile aber foulte weiter, er stieg Maradona in die Beine, mit Freude und ohne Konsequenzen.

Argentinien verlor 1:2 und Maradona im nächsten Spiel gegen Brasilien die Nerven, der Platzverweis nach einem Magentritt gegen Batista, das Ende seiner ersten WM. Den Weg zum Triumph ebnete er sich erst vier Jahre später. 1986 bei der Krönungsmesse in Mexiko, das Viertelfinale gegen England, eine mikrokosmische Offenbarung von Maradonas Charakter in seiner Ambivalenz aus Verschlagenheit und Genialität.
1986 wird Maradona endgültig zur Legende
Erst die Hand Gottes, 16 Jahre nach dem Parque Saavedra. Dann das Tor des Jahrhunderts, eine betörende Komposition in vollendeter Schönheit. Es ist noch heute bei der Betrachtung allein der ersten Momente mit Ballannahme, Drehung und Antritt bereits so ergreifend wie das Intro von Bruckners Siebter unter Karajans Taktstock.

Später der Triumph im Endspiel gegen die Deutschen, der finale Pass auf Jorge Burruchaga, der dem hechelnd hinterherstampfenden Hans-Peter Briegel enteilte, die Krönung mit dem WM-Pokal, die Inauguration zur Unsterblichkeit.
Wäre Argentinien ein Fußballverein, dann garantiert der TSV 1860
Dass es ihm nicht glückte, den Titel zu verteidigen, dass er 1986 noch mit Leichtigkeit sechs Engländer stehenließ, 1990 aber an Guido Buchwald verzweifelte, der Verlust seiner Dominanz und der beginnende Niedergang. Dass 1994 das traurige Ende folgte, mit dem Dopingskandal bei der WM in den USA, als er in einem Zustand der Metamorphose bereits im umnebelten Übergang in das Schattenreich seines späteren Lebens zu sein schien.
Kurz, dass er nie mehr der Maradona war von 1986, das sahen sie ihm hier nach, in dem chronisch von Krisen und Skandalen geplagten Argentinien mit seiner ständigen Melancholie, und der Sehnsucht nach besseren Zeiten.
Wäre die Nation ein Fußballverein, dann garantiert der TSV 1860. Vielleicht hat Argentinien ja deshalb auch die Farben weiß und blau.
Von Maradona werden sie immer die Bilder im Kopf haben, wie er im Juli 1986 auf dem Balkon des Präsidentenpalasts stand, der Casa Rosada, dort wo nach seinem Tod nun auch der Sarg aufgebahrt war. Der großartige Maradona, der heilige San Diego. Der Zottelkopf aus Fiorito.