DFB-Frauen im EM-Halbfinale: Das Monster ist erwacht

London - Der Ball hatte noch nicht einmal die Torlinie überquert, da riss Alexandra Popp schon die Arme jubelnd in die Höhe und rannte los. Bruchteile zuvor war sie aggressiv auf Österreichs Torhüterin Manuela Zinsberger zugestürmt. Sie ahnte, dass die den Ball nicht mehr rechtzeitig voll erwischen würde, deren Schuss prallte an Popp ab - und die deutsche Kapitänin musste ihn nur noch ins Tor rollen lassen. Drin, das Ding!
Dann lief sie auf ihre Mitspielerinnen zu - warf sich mit geballten Fäusten auf die Knie. Sturmkollegin Jule Brand war in Windeseile bei ihr, als Popp mit dem Treffer in der 90. Minute zum 2:0-Erfolg gegen Österreich den Einzug ins EM-Halbfinale klar machte.
Alexandra Popp trifft wie sie will
Die Siegesfaust der Kapitänin. Vier Tore in vier aufeinanderfolgenden EM-Spielen: Das hat vor der 31-Jährigen noch niemand geschafft. Doch während die anderen Spielerinnen sich noch freudig übereinanderstapelten, lief Popp schon wieder weiter. Weiter, immer weiter! Mehr, immer mehr! Sie ist eine Kämpferin wie keine andere im Team, was ihre Leidensgeschichte in der jüngeren - und älteren - Vergangenheit zeigt. Sie will immer mehr.
Popp steht sinnbildlich für die vor der der EM so sträflich unterschätzte deutsche Mannschaft, die es zur Überraschung vieler ins Halbfinale geschafft hat. "Wir sind hier ins Turnier gestartet, wo jeder gedacht hat, dass wir nichts reißen", sagte Popp. "Jetzt stehen wir im Halbfinale, und das hat sich die Mannschaft unglaublich verdient. Die hat so eine Energie auf dem Platz - die ist sehr cool und sehr bewundernswert."
"Ich habe noch keine verdammte EM gespielt, ich will diese EM jetzt spielen!"
Am meisten zu bewundern ist aber Popp selbst, die Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg nur als Einwechselspielerin eingeplant hatte. Die Stürmerin gab im April nach neunmonatiger Pause nach einer Knieverletzung ihr Comeback in der Nationalmannschaft und infizierte sich im Trainingslager im Juni noch mit Corona. "Ich habe noch keine verdammte EM gespielt, ich will diese EM jetzt spielen!", sagte sie.
2013 war es ein Bänderriss im Sprunggelenk, 2017 der Meniskus. Jeweils verpasste sie das Turnier. Wäre die EM in England nicht coronabedingt verschoben worden, hätte sie sie wieder verpasst.
Der Wille trieb sie an und brachte sie im ersten Gruppenspiel zum ersten Tor - natürlich mit dem Kopf, ihre Spezialität. Da war sie noch Einwechselspielerin für Lea Schüller, die hocheffiziente Stürmerin vom FC Bayern (40 Spiele, 26 Tore). Nach deren coronabedingtem Ausfall brachte Voss-Tecklenburg ihre Kapitänin, mit 118 Spielen die erfahrenste. Sie wolle "mit Alex etwas beim Gegner auslösen", sagte MVT vor dem Spanien-Spiel. Ziel erreicht, und zwar in allen bisherigen Spielen. "Poppi stirbt ja für jemanden auf dem Platz. Poppi gibt immer alles", zog die Bundestrainerin bereits Bilanz.
Deutsche Mannschaft überzeugt wieder als Team
Ihre Mitspielerinnen übernahmen den Kampfgeist. Die Österreicherinnen machten es den DFB-Frauen mit vielen aggressiven Aktionen schwer und waren dreimal im Aluminiumpech. Die deutsche Mannschaft überzeugte wieder als Team. Speziell Mittelfeldspielerin Lena Oberdorf ließ die unglücklichen "Tu felix Austria"-Frauen nicht noch mehr vor das deutsche Tor kommen. Für MVT hat sie ein "ganz, ganz großartiges Spiel gemacht". Auch Lina Magull, die zuletzt aufgrund von Oberschenkelproblemen fehlte, fand sich sofort wieder ein, schoss das 1:0.
Nachdem die Nachbarinnen in der ersten Hälfte die Partie kontrollierten, eroberte sich die DFB-Elf das Spiel zurück. Man habe "die Positionierung angepasst, dann haben wir mehr Sicherheit im Spielaufbau bekommen", sagte die Bundestrainerin. Und kühlen Kopf bewahrt. So wird aus der Mannschaft, mit der niemand gerechnet hat, ein Turnierfavorit. Das Monster ist erwacht und will mehr - immer mehr.