DFB-Doku auf Amazon Prime: Das große Warum

Die WM-Doku wird für den DFB zunehmend zum Desaster. Wie konnte es soweit kommen? Die AZ erklärt die Hintergründe und beantwortet die wichtigsten Fragen.
von  Patrick Strasser
Mal aus der Vogelperspektive, aber meist ganz nah dran: Die WM-Doku über die DFB-Elf in Katar birgt viele Sprengstoff-Szenen.  Foto: Amazon Prime
Mal aus der Vogelperspektive, aber meist ganz nah dran: Die WM-Doku über die DFB-Elf in Katar birgt viele Sprengstoff-Szenen. Foto: Amazon Prime

München - Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall. Wenn man den Fall, sprich den harten Aufschlag auf den Boden der Realität, schon kennt, wirkt das Beobachten dieses Hochmuts auf einen beklemmend. Als Zuseher der "All or Nothing"-Doku von Amazon Prime Video weiß man, wie die Vorrunde der deutschen Nationalelf bei der WM in Katar enden wird: im Desaster.

Jedes Scheitern hat auch immer mit der Fallhöhe bzw. der Flughöhe zu tun – ob es nun Graugänse oder bunte Paradiesvögel sind. Vor dem dritten Gruppenspieltag, dem Alles-oder-Nichts-Duell mit Costa Rica, darf aufgrund der Tabellenkonstellation gerechnet werden. "Wenn wir 34:0 gewinnen, sind wir weiter", scherzt Thomas Müller auf einer Fahrt im Mini-Bus zur Pressekonferenz.

WM 2022 in Katar: Den Ernst der Lage erkannte beim DFB niemand

Klar witzelt der Gutelaune-Minister immer und ohne ihn wäre alles noch grauer, doch allen Beteiligten (auch WM-Sonnyboy Niclas Füllkrug) merkt man an, dass ein Scheitern ausgeklammert wurde, als hätte es die selbstverschuldete Warnung mit der Katastrophe WM-Vorrunde 2018 in Russland nicht gegeben.

Die Spanier würden ihr Parallelspiel gegen Japan schon gewinnen, und wenn es anders kommt – haha! – "dann reicht uns ein 8:0", so Müller. Mathematisch korrekt. Das rund um Bundestrainer Hansi Flick vorab nur über die Höhe des Ergebnisses gegen Costa Rica diskutiert wurde, beweist, wie sehr das DFB-Team über den Dingen dahinschwebte. Fernab von jedem Gespür für Gefahr.

Doku auf Amazon Prime: Ausgerechnet Japan – Länderspiele mit Sprengstoffpotenzial

Die vier Teile der Doku sind seit Freitag auf Prime Video abrufbar, damit einen Tag vor dem Test-Länderspiel gegen Japan am Samstag (20.45 Uhr, RTL) in Wolfsburg. Wieder Japan. Denn das 1:2 zum WM-Auftakt war der Anfang vom Ende aller Hoffnungen Träume.

Hübsche Rahmenhandlung mit Sprengstoff. Die sehenswerte, weil handwerklich perfekt gemachte und packend geschnittene Doku schafft einerseits viel Klarheit und sorgt andererseits für Verwunderung und Unverständnis.

Die deutsche Nationalmannschaft auf Amazon: Der DFB musste die Ausstrahlung akzeptieren 

Die Zuschauer fragen sich angesichts brisanter Szenen aus dem Innenleben der Nationalelf und aufgrund des pikanten Datums der Veröffentlichung inmitten der nicht enden wollenden sportlichen Krise: Warum? Die wichtigsten Fragen und Antworten zur Schlüsselloch-Doku:

Warum dieser Ausstrahlungszeitpunkt? Weil Amazon das alleinige Recht besaß, darüber zu entscheiden. Dem DFB waren die Hände gebunden, immerhin dürfte dieser in dem Zusammenhang mehr Moneten für die exklusiven Einblicke zwischen den Fingern gehabt haben. Laut Flick gäbe es eben Verträge "und da müssen wir Sachen akzeptieren".

"Spreche ich eine andere Sprache": Einblicke ins Verhältnis zwischen Hansi Flick und DFB-Team

Fand eine Zensur durch den DFB statt? Nein, die war ebenfalls – vertraglich geregelt – nicht gestattet. Es durften von DFB-Seite aus keine Szenen gestrichen oder verändert werden. Lediglich bei falschen Fakten oder fälschlich zu verstehenden Formulierungen hätte eingegriffen werden können. "Es ging um Authentizität. Das Risiko war allen bekannt", sagte DFB-Mediendirektor Steffen Simon bei der Vorstellung der vierten und letzten Folge in München.

Wie kommt Hansi Flick rüber? Der Bundestrainer, der am Freitag in Wolfsburg erklärte, die Doku aus Gründen ("Ich war ja dabei!") noch nicht gesehen zu haben, erscheint in Katar als der einzige, alleingelassene Rufer in der Wüste. Wenn er flucht und schimpft, redete er an seiner Mannschaft vorbei. Als Joshua Kimmich in der Nachbesprechung des Japan-Spiels die Taktik kritisiert, meint Flick gereizt: "Spreche ich eine andere Sprache?"

Ein Trauerspiel, aber auch großes Kino: Mehr Fannähe erzeugt die DFB-Doku jedoch nicht

Was sagt die Doku über die Mannschaft? Dass sich Spieler, mal Kimmich und Niklas Süle, mal Kimmich und Antonio Rüdiger fetzen, kommt in jeder Mannschaft der Welt vor – egal auf welchem Niveau. Dagegen überraschen das Schweigen und die Teilnahmslosigkeit vieler Spieler in Sitzungen. Leere Gesichter, kaum Emotionen.

Wird durch die Doku mehr Fannähe geschaffen? Jein, der Blick hinter die Kulissen irritiert eher. Wie sehr sich die Nationalelf von ihrer Basis, von den Fans, entfremdet hat, zeigt die Anklage von Kai Havertz am Donnerstag aufgrund des mangelnden WM-Supports aus der Heimat: "Wir waren auf uns allein gestellt!"

Fazit: Doku-Stimme Bela Réthy, früher ZDF-Kommentator, spricht mit seinem wohligen, dunklen Timbre von der "Geschichte einer Tragödie". Stimmt. Ein Trauerspiel – aber auch gerade deshalb: Großes Kino! 

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