Der große Elfer-Bluff

Das mit dem Zettel im Stutzen ist Schmarrn, erklärt der Wissenschaftler. Wenn das Spiel gegen Argentinien wirklich vom Punkt entschieden wird, dann gilt: 1,22 Meter hoch schießen – mindestens!
AZ: Herr Loy, es ist wie 2006. WM, Viertelfinale, Gegner Argentinien, wieder ein Nachmittagsspiel. Und vielleicht auch wieder ein Elfmeterschießen. Soll sich Manuel Neuer auch einen Zettel besorgen wie einst Jens Lehmann?
ROLAND LOY: Kommt darauf an, was drauf steht. Was Lehmann damals aus seinem Stutzen gezogen hatte, war ja das eigentliche Sommermärchen 2006. Das war der reinste Bluff! Von den Elfmeterschützen standen nur Ayala und Rodriguez auf dem Zettel. Bei meinen Recherchen stellte ich fest, dass Ayala ungefähr so oft Elfmeter schoss wie einst Schwarzenbeck. Also fast nie. Wo sollte also das Wissen über Ayalas Lieblingsecke herkommen. Das war alles nur der reinste Schwindel..
Vielleicht half er ja psychologisch. Was empfehlen Sie den deutschen Spielern, damit es im Elferschießen gegen Argentinien reicht?
In die obere Hälfte des Tores schießen. Das ist der fast hundertprozentige Elfmeter.
Wirklich?
Ja. Ich habe 2000 Elfmeter systematisch ausgewertet. 99 Prozent aller Schüsse in einer Höhe zwischen 1,22 Metern und der Querlatte gingen auch ins Tor. Schüsse auf die untere Hälfte sind weniger erfolgreich. Da werden nur 75 Prozent verwandelt. Siehe Podolski gegen Serbien. Es ist erstaunlich, dass solche wissenschaftlichen Erkenntnisse noch nicht in die Praxis vorgedrungen sind.
Und was ist mit den berühmten halbhohen Schüssen?
Niemals. Auf gar keinen Fall knie- und hüfthoch. Da ist die Abwehrquote sehr hoch. Bei 38,1 Prozent. Sehr erfolgreich ist auch, die Reaktion des Torhüters abzuwarten und dann ins andere Eck zu schieben. Breitner hat das oft gemacht. Makaay auch.
Lieber kräftig oder platziert?
Gut, dass Sie das fragen. Mit Gewalt geht es besser. Man meint immer, platzierte Elfmeter seien erfolgreicher – falsch. Augen zu und durch, da gehen 76,5 Prozent rein. Bei den platzierten nur 71,5. Also immer feste druff. Neeskens im WM-Finale '74 gegen Sepp Maier: ein Paradebeispiel.
Der schoss ja mit Wucht in die Mitte.
Auch ein probates Mittel. Der Torwart entscheidet sich in 99 Prozent für eine Ecke, nur bei einem Prozent bleibt er stehen. Hoch in die Mitte, der sitzt fast immer.
Sie haben in Ihrer Studie festgestellt, dass die Trefferquote in einem Elfmeterschießen mit 70 Prozent niedriger ist als bei Elfmetern in der regulären Spielzeit mit 75 Prozent. Woran liegt das?
Ein Erklärungsansatz könnte sein, dass im regulären Spiel immer die Spezialisten antreten, beim Elfmeterschießen aber auch Spieler ran müssen, die sonst nur ganz wenige Elfmeter schießen. Ayala, das beste Beispiel.
Liegt’s nicht auch am Druck?
Kann schon sein. Oliver Neuville hat am 1. Spieltag nach der WM 2006 einen Elfmeter für Gladbach zum 2:0 gegen Cottbus verwandelt. Danach sagte er, das Tor sei größer gewesen als das im Elfmeterschießen gegen Argentinien. Faktisch natürlich Unsinn, aber es belegt gut, dass die Drucksituation bei Elfmetern unterschiedlich sein kann.
Elfmeter sind für Sie als Wissenschaftler berechenbar. Im Fußball an sich, sagten Sie einmal, regiere das Chaos.
So ist es auch. Fußball ist gekennzeichnet durch Komplexität, Relativität, Mehrdimensionalität und Multistruktur. Dazu kommen Glück und Zufall. Tatsächlich fallen 50 Prozent aller Tore nach rein zufälligen Ereignissen. Ein Abpraller, der Ball verspringt, eine Fehlentscheidung, ein Torwartfehler. Wir sind Lichtjahre davon entfernt, zu wissen, wie der Fußball funktioniert. Es trennen uns sogar ganze Galaxien davon, zu wissen, wie der Erfolg im Fußball zustande kommt.
Es gibt TV-Experten, die meinen, den Erfolg und Misserfolg erklären zu können.
Ich kenne Jürgen Klopp sehr gut und schätze ihn sehr. Aber ich finde es frappierend, mit welcher Selbstverständlichkeit er Dinge erklärt, von denen kein Mensch sagen kann, ob sie stimmen oder nicht. Absolut unverständlich auch, warum Günther Jauch das alles hinnimmt und nicht kritisch nachfragt, ob all die Aussagen auch tatsächlich wahr sind. Die Psychologie spricht da von einer dentalen Hemmung, wenn man alles ungefiltert schluckt und kritiklos akzeptiert, was andere sagen.
Interview: Florian Kinast