So kritisiert Berti Vogts die heutige DFB-Generation: "Kann nur mit dem Kopf schütteln"

AZ: Wenn Sie heute an die WM 1974 denken. Was kommt Ihnen da als erstes in den Kopf?
BERTI VOGTS: Wenn man das mit der Europameisterschaft in Verbindung bringt, was den Spielern heute alles angeboten wird, fällt es mir schwer, darüber nachzudenken. Nicht nur der Ort der Vorbereitung, sondern auch mit wem trainiert wird, ist anders. Zum Vergleich: Als wir in der Sportschule Malente wohnten, durften wir in fünf Tagen nur einmal zum Eisessen gehen. Was sich dort heute abspielt, da kann ich nur mit dem Kopf schütteln. Wenn man dann noch sagt, die Zeit würde nicht reichen, dann sollen sie mal schauen, wie viel Zeit wir hatten. Ähnlich sieht es mit den geldlichen Dingen aus. Wenn ich aber heute höre und sehe, was der DFB den Spielern zahlt, dann kann man das mit 1974 nicht vergleichen. Es war einmal eine Ehre, für Deutschland zu spielen.

Machen wir eine kleine Zeitreise in den Mai 1974. Der FC Bayern wurde nur knapp vor ihrem damaligen Verein, Borussia Mönchengladbach Meister. In der Nationalmannschaft gab es den berühmt berüchtigten Bayern-Block, aber auch mit Kleff, Bonhof, Wimmer, Heynckes und Ihnen einen Gladbach-Block. Hat dieses enge Meisterschaftsrennen für ein wenig Spannung in der Mannschaft gesorgt?
Überhaupt nicht, im Gegenteil. Wir waren alle miteinander befreundet. Ich persönlich hatte schon in der Jugendauswahl mit Franz Beckenbauer zusammengespielt. Unser damaliger Trainer Dettmar Cramer hat uns zusammengebracht und gesagt, ihr beide werdet noch viel erreichen. Es war eine wunderbare Zeit mit Franz Beckenbauer. Beide Mannschaften taten in den 1970er- und 1980er-Jahren viel für den deutschen Fußball. Allem voran mit Franz Beckenbauer und Günter Netzer. Günter Netzer war neben Franz Beckenbauer ein absoluter Weltklassespieler. Deshalb spielte er auch bei Real Madrid. Dort ist er heute noch beliebt.
Vogts über Zuversicht bei der Heim-WM: "Unser Thema war nur, wir müssen Weltmeister werden"
Kommen wir zurück zur WM 1974. Auf welchem Wege wurde Ihnen mitgeteilt, dass Sie im Kader stehen?
Ich war schon bei der Weltmeisterschaft 1970 im Kader und habe alle Spiele gemacht. Dann war klar, dass ich dabei bin. Aber ich hatte dann bei der Europameisterschaft in Belgien, wo Deutschland mit einem überragenden Günter Netzer Europameister wurde, eine Verletzung. Helmut Schön hatte mich aber trotz der Verletzung einfach mitgenommen, obwohl er wusste, dass ich nicht spielen konnte. Ich war verletzt. Er hat nur gesagt, ich möchte dich dabeihaben, weil ich dich in zwei Jahren brauche. Er wollte mich sogar im Finale gegen die UdSSR einsetzen. Ich sagte ihm dann, Herr Schön, ich kann nicht laufen, ich kann nicht spielen. Es steht doch schon 2:0 für uns. Dann sagte er mir, in zwei Jahren bei der Weltmeisterschaft in Deutschland spielst du. Das war das Größte, was ich je von einem Trainer an Lorbeeren bekommen habe.

Mit welchem Gefühl sind Sie nach Malente angereist? War die Zuversicht groß, dass man das Turnier gewinnt?
Wir wurden 1972 Europameister. Da war schon allen klar, wenn wir keine Fehler machen, dann werden wir Weltmeister. Unser Thema war immer nur, wir müssen Weltmeister werden. So sind wir aufgewacht. Bevor wir 'Guten Morgen' gesagt haben, haben wir gesagt, wir werden Weltmeister.
Kurz vor dem Turnier gab es Unruhe um die WM-Prämien. Der DFB wollte nur 30.000 D-Mark pro Mann für den Gewinn zahlen. Wie standen Sie zu dieser Prämie?
Nachdem Angebot des DFB waren wir drauf und dran sogar abzureisen. Wenn nicht Helmut Schön gewesen wäre, wenn er nicht so einen guten Draht zu den Spielern gehabt hätte. Er hat uns zusammengesetzt und gesagt, wir spielen nicht für Geld, sondern wir wollen Weltmeister werden. So hat uns der Trainer bei Laune gehalten.
DFB: Vogts vergleicht Partie gegen DDR mit Rhein-Derby
Aber hätten Sie sich eine Heim-WM entgehen lassen? Ein solches Turnier im eigenen Land ist schon etwas Besonderes.
Damals war eine Heim-WM noch etwas Besonderes. Heute sagt man eher, es ist schon wieder ein Turnier. Wir waren froh nach der WM in Mexiko ein Heim-Turnier zu haben.
Das DFB-Team ist trotz des Streits gut ins Turnier gestartet. Gegen Chile und Australien gab es zwei Siege. Anschließend stand das Spiel gegen die DDR an, ein Spiel mit politischer Brisanz. Kann man die Stimmung vor dem Spiel mit dem Rhein-Derby gegen Köln gleichsetzen?
Ja, das kann man durchaus mit dem Rhein-Derby Gladbach gegen Köln gleichsetzen.
Können Sie sich noch an die Ansprache von Bundestrainer Helmut Schön vor dem Spiel erinnern?
Er hat einen tollen Spruch gesagt. Helmut Schön meinte zu uns: 'Jungs, ihr müsst heute für mich spielen. Ich komme aus Dresden' So war seine Ansprache. Und wir waren unserem Bundestrainer etwas schuldig.
Die Partie wurde trotzdem mit 0:1 verloren. Rückblickend nicht schlecht, weil man so in der 2. Runde Gegnern wie Brasilien oder der Niederlande aus dem Weg ging.
Wir wollten trotzdem das Spiel gewinnen, aber wir waren zu verkrampft. Nach 70 Minuten haben wir dann gesagt, komm, lassen wir sie gewinnen, wir gehen in die andere Gruppe, das ist leichter für uns, dann treffen wir sie im Finale wieder. Aber dort ist die DDR nicht hingekommen.

Vogts hatte vor WM-Finale mit Adduktoren-Problemen zu kämpfen
Nach der Partie ordnete Kapitän Franz Beckenbauer eine nächtliche Krisensitzung in der Sportschule Malente an. Wollen Sie mich mit in den Sitzungsraum nehmen?
Franz und die Spieler, die schon eine WM gespielt hatten, haben gesagt, dass wir uns so etwas nicht mehr erlauben können und, dass die Weltmeisterschaft für uns jetzt beginnt. Als Helmut Schön weg war, hat der Franz wirklich gesagt, so geht es nicht weiter. Wir sind durch Glück in die leichtere Gruppe gekommen und wollen jetzt Weltmeister werden. Das war Franz Beckenbauer.
Würden Sie rückblickend sagen, diese Nacht war die Entscheidende für den WM-Sieg?
Das war die wichtigste und entscheidendste Nacht, die ich je in der deutschen Fußballnationalmannschaft erlebt habe.
Es folgten Siege gegen Jugoslawien und Schweden, ehe die Wasserschlacht von Frankfurt gegen Polen anstand. Die Feuerwehr musste sogar anrücken, um Wasser abzupumpen. Wie schwer war es, an jenem Tag zu spielen?
Wir haben nur gesagt, wir müssen das Spiel gewinnen, auch wenn wir schlecht spielen. Wir wollten ins Finale und da wollten wir wieder auf die DDR treffen. Aber die DDR hat uns leider im Stich gelassen.
Sie hatten sich bei diesem Spiel, das 1:0 ausging, an den Adduktoren verletzt. Wie groß war Ihre Angst, im Finale nicht spielen zu können?
Unser Physiotherapeut, Erich Deuse, hat gesagt: 'Berti es ist kein Problem, wir geben dir noch eine Spritze, das sind nur die Adduktoren. Da kann man mit der Spritze gut 90 Minuten spielen.'
Stimmt es, dass Sie am Vorabend des Endspiels 1974 zusammen mit Rainer Bonhof vom WM-Pokal träumten?
Davon haben mehrere geträumt (lacht). So einen Pokal zu sehen, war ein unbeschreibliches Gefühl. Vor der Partie stand er neben dem Spielfeld und wir haben ihn angeschaut. Wir haben dann gesagt, er gehört nur uns. Das war klar.
Wie war Ihre Beziehung zu Rainer Bonhof?
Wir sind noch heute befreundet. Rainer Bonhof ist ein toller Charakter und Mensch. Er war ein halber Holländer. Wenn er in Gladbach mal schlecht gespielt hat, haben wir immer gesagt, typisch Holländer. Vor dem Finale gegen Holland habe ich zu ihm gesagt, du musst heute gegen deine Kumpels ernst spielen. Daran hat er sich gehalten. Er hat sehr gut gespielt, und dass, obwohl er der Jüngste im Kader war.
WM-Held Vogts über Cruyff: "War ein super Kamerad und Spieler"
Ihr Gegenspieler im Finale war kein Geringerer als Johan Cruyff, der bis dahin eine überragende WM gespielt hatte. Hatten Sie Angst gegen Ihn zu spielen?
Nein, wir haben mit Gladbach jedes Jahr gegen die Nationalmannschaft Hollands gespielt. Johan kannte ich auch von meinem Ausrüster Puma. Ich weiß noch gut, als wir auf das Spielfeld gegangen sind, hat er mich angeschaut, dann habe ich mit den Fingern zuerst auf ihn und dann auf mich gezeigt, dann wusste er Bescheid, wer gegen ihn spielt. Er hat dann seine Hand vor die Augen gehalten und mit dem Kopf geschüttelt. Heute macht man das nicht mehr, dass man einen Spieler über 90 Minuten in die reine Manndeckung nimmt. Aber Helmut Schön hatte mich gefragt, ob ich das schaffe, weil ich das schon öfter gemacht hatte. Auch kannte ich Johann in- und auswendig. Johann war ein super Kamerad, ein super Spieler und ein toller Gegenspieler.
Günter Netzer musste am Vortag im Training Johan Cruyff mimen. Konnte er mit Cruyff mithalten?
Günter wusste genau, wo meine Schwächen sind. Wir hatten auch in Gladbach lange zusammengespielt. Dementsprechend hat er es herausragend gemacht. Anschließend hat mich Helmut Schön gefragt, ob ich das gegen den Johan schaffe. Ich habe dann geantwortet, dass ich das schaffe und betont, dass ich gegen Günther Netzer nichts machen kann. Dann hat er gesagt, das stimmt auch wieder. Aber du schaffst das? Ja, Herr Schön ich schaffe es (lacht).
Das Finale hätte aus deutscher Sicht nicht schlimmer beginnen können. Nach 53 Sekunden entwischte Ihnen Johan Cruyff, er wurde schließlich von Uli Hoeneß gestoppt. Es gab Elfmeter für die Niederlande, den Johan Neeskens verwandelte.
Das ist aber nett, dass Sie das sagen. Viele bayerische Zeitungen sagen immer noch, ich hätte ihn im Strafraum gestoppt (lacht).

Es soll alles seine Richtigkeit haben. Was ist Ihnen nach dem Elfmeter durch den Kopf gegangen?
Wir waren heiß auf den Titel und wollten Weltmeister werden. Nach dem 0:1 haben wir gesagt, auf geht´s, weiter. Franz war unser Motivator. Dann ging das weiter über meine Person zu Jürgen Grabowski. Das war wirklich super. Auch Gerd Müller hat gesagt, komm es steht nur 0:1, ich hau jetzt noch zwei rein, fertig aus. Wir waren eine Mannschaft.
DFB-Team feierte nach WM-Sieg 1974 im P1
Nach dieser Aktion hatten Sie Cruyff nahezu das ganze Spiel in „Terrier“-Manier unter Kontrolle. Was war das Erfolgsrezept, um so einen Ausnahmespieler zu stoppen?
Wenn man einen Spieler in die reine Manndeckung nimmt, hat er es schwer in Ballbesitz zu kommen. Das war bei Johan auch der Fall. Aber selbst in Ballbesitz hatte er keine Chance gegen mich. Ich kannte ihn wirklich in- und auswendig.
Durch Tore von Paul Breitner und Gerd Müller gewann Deutschland die Partie letztlich mit 2:1. Wissen Sie noch, an was Sie gedacht haben, als der Schlusspfiff ertönte und klar war, Sie sind Weltmeister?
Ich habe das erst später begriffen, als wir zur Europameisterschaft fuhren oder die WM-Qualifikation spielten. Während des Finals war es wichtig, das Spiel zu gewinnen und für mich war es wichtig, Johann nichts ins Spiel kommen zu lassen. Aber, dass wir Weltmeister geworden sind, habe ich in diesem Moment nicht geglaubt. Die beste Mannschaft der Welt war für mich in diesem Moment immer noch Brasilien.
Wieso Brasilien?
Ich habe oft in Brasilien gespielt. Im Maracana-Stadion waren zum Teil über 220.000 Menschen. Die Brasilianer waren dann für mich einfach immer die beste Mannschaft der Welt. Die Argentinier nicht so, die Chilenen auch nicht. Beide Mannschaften waren sehr deutschlandfreundlich und haben nie gegen uns gewonnen. Auch später, als ich mit Hannes Weisweiler dorthin gefahren bin und wir bei der Borussia einen Brasilianer kaufen wollten, war das immer toll, dort zu sein.
Schauen wir zurück auf den Finaltag. Nach dem Spiel ging es ohne Frauen auf das offizielle Bankett. Wie standen Sie dazu?
Das war ein Problem. Nachdem der offizielle Teil vorbei war, sind wir geschlossen aufgestanden, zu den Frauen gegangen und in die Diskothek gefahren.
Eine Gruppe um Sepp Maier ging damals ins P1. Waren Sie auch dabei?
Ja, wir sind immer zusammengegangen. Auch die anderen Spieler. Es war nicht so, dass einer in ein Restaurant gegangen ist und der andere in die Diskothek. Wir sind immer geschlossen gegangen, ob wir zu zehnt oder zu fünfzehnt waren.
Vogts über Franz Beckenbauer: "Er war ein Hero"
Wann kamen Sie dann ins Bett?
Ich bin wie viele andere direkt zum Frühstück gegangen (lacht).
Sie durften in allen sieben Spielen über 90 Minuten spielen. Hatten Sie damit gerechnet, dass Helmut Schön so sehr auf Sie setzt?
Wenn Helmut Schön in Köln war, haben wir uns oft in Düsseldorf im Restaurant getroffen. Dort habe ich ihm immer gesagt, was wir ändern müssen. Dann sagte er zu mir, du musst auch mal schauen, dass du vernünftig spielst. Dann war ich wieder ruhig. Aber er war ein toller Mensch. Als ich die Verletzung hatte, war ich aufgrund der Thermalbäder in Ischia. Dort hat er mir zwei Tage gezeigt, was ich alles machen muss. Welcher Trainer macht das heute noch? Die sitzen heute vor dem Computer und schauen, was sie an Ideen finden.
Ich möchte nochmal näher auf den Kaiser, Franz Beckenbauer eingehen, der in diesem Jahr leider von uns gegangen ist. Wie wichtig war er als Kapitän für die Mannschaft?
Franz war nicht nur der Kapitän, er war der Hero. Franz war für uns der Liebe Gott des Fußballs. Ich hatte den Vorteil, dass ich mit ihn schon in der U18 gespielt hatte. So lange kannten wir uns schon.
Welche persönlichen Erinnerungen haben Sie an Franz Beckenbauer, sowohl auf als auch abseits des Feldes?
Nur angenehme und tolle Erinnerungen. Der Tag der Beerdigung war für mich sehr schwer.

"Nicht Fußball gespielt wegen der Kohle, sondern weil wir Spaß hatten": Vogts kritisiert aktuelle DFB-Generation
Bereits zuvor ist mit Gerd Müller ein weiterer Eckpfeiler der Mannschaft verstorben. Was hat er für die Mannschaft bedeutet?
Wenn Gerd kein Tor schoss, war er nicht ansprechbar, selbst wenn wir gewonnen hatten. Wenn wir ein Spiel verloren hatten, was mit der Nationalmannschaft selten vorkam, und er sein Tor hatte, war er happy. Dann hat er gesagt, ich habe ein tolles Tor geschossen, das nächste Spiel gewinnen wir, da schieße ich zwei Tore. Alle Bayern-Spieler waren aber wirklich super. Ob das Sepp Maier, Uli Hoeneß, Bulle Roth, Paul Breitner oder Katsche Schwarzenbeck war. Wir waren ein Team. Wie wir immer zusammengehalten haben, war wirklich toll.
Welches Vermächtnis hoffen Sie, das die Weltmeisterschaft 1974 und die Spieler jener Zeit für zukünftige Generationen im deutschen Fußball hinterlassen haben?
Ob heute ein 20-Jähriger einen Gerd Müller oder einen Berti Vogts kennt, weiß ich nicht. Es war eine andere Zeit. Wir haben nicht Fußball gespielt wegen der Kohle, sondern weil wir Spaß hatten.