Amiri: "Irans Regime zittert vor einem Erfolg der Mannschaft"

Die Deutsch-Iranerin Natalie Amiri leitet das ARD-Studio in Teheran. In der AZ spricht sie über das Stadionverbot für Frauen, Staatszensur und die Angst, dass das Team eine Euphorie entfacht.
Interview: Patrick Strasser |
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Natalie Amiri leitet seit 2015 das ARD-Studio in Teheran.
ho Natalie Amiri leitet seit 2015 das ARD-Studio in Teheran.

München - WM-Gespräch mit Natalie Amiri. Die Münchnerin ist eine deutsch-iranische Hörfunk- und Fernsehjournalistin, sie moderiert den "Weltspiegel" und leitet seit 2015 das ARD-Studio in Teheran.

Natalie Amiri leitet seit 2015 das ARD-Studio in Teheran.
Natalie Amiri leitet seit 2015 das ARD-Studio in Teheran. © ho

AZ: Iran ist das einzige Teilnehmerland dieser WM, in dem Frauen nicht ins Stadion dürfen. Frauen werden in dem streng religiös regierten Land systematisch unterdrückt. Fünf Mädchen, die sich im April als Männer verkleidet ins Nationalstadion von Teheran geschlichen haben, wurden in den sozialen Netzwerken zu Heldinnen. Was ist den Mädchen mit den angeklebten Bärten passiert, Frau Amiri?
NATALIE AMIRI: Sie sind noch nicht abgeholt worden. Seit Jahren versuchen iranische Frauen, in die Stadien zu kommen. Es ist ein kleiner Aufstand, ihre eigene kleine Revolution gegen das Regime. Über die sozialen Medien lassen sie sich für den Coup feiern. Das wiederum ist Ansporn für andere Frauen, es auch zu versuchen. Von offizieller Seite wird das Thema totgeschwiegen.

Zuvor hatten 35 Frauen versucht, ein Spiel im Azadi-Stadion zu besuchen. Sie wurden von der Polizei in Gewahrsam genommen. Azadi heißt "Freiheit" – ein scheinheiliger Name. Angeblich sei die Atmosphäre auf den Tribünen zu maskulin, zu vulgär, so die Begründung der Geistlichen.
Ja, mit der Begründung machen es sich die Offiziellen einfach. Das iranische Futsal-Nationalteam der Frauen ist vor kurzem Asienmeister geworden. Was überträgt das Staatsfernsehen? Die Eishockey-WM der Männer. Das Frauen-Nationalteam des Iran wird nicht unterstützt. Sie bekommen deshalb auch keine Sponsoren, weil das TV deren Spiele nicht zeigt.

Als im Mai das Spiel zwischen Köln und Bayern übertragen wurde, zeigte das Staatsfernsehen Schiedsrichterin Bibiana Steinhaus nur in der totalen Kameraeinstellung, bei Nahaufnahmen Zuschauer.
Ein anstrengendes Spiel für die Zensurmeister im Iran. Generell wird jedes Spiel mit einer zehn- bis 15-sekündigen Verzögerung des Welt-Bildes übertragen. Auch bei einer WM. So können sie Frauen auf den Tribünen heraus- und andere Bilder reinschneiden. Bei Steinhaus hat man auch versucht, die Realität herauszuschneiden – im 21. Jahrhundert. In Irans sozialen Netzwerken wird das mit enorm viel Ironie und Sarkasmus bestraft.

Werden die sozialen Medien nicht vom Staat zensiert?
Natürlich. Überall, wo es geht. Zuletzt wurde der "Telegram Messenger" gesperrt, den etwa 40 der 80 Millionen Iraner genutzt haben – eine riesige Einschränkung. Auch für Journalisten. Denn über Staatsmedien bekommt man keine Informationen, was in den Provinzen des Landes passiert. Aber die Iraner sind spitzfindig und finden immer neue Möglichkeiten, über VPN, ein virtuelles privates Kommunikationsnetz, die Zensur zu umgehen.

Wie groß ist die Euphorie rund um das Männer-Team mit Blick auf die WM in Russland?
Die Unruhen im Land haben die Euphorie genommen, weil die Menschen in ihrem Alltag zu viele Sorgen haben. Die hohe Arbeitslosigkeit, der Währungsverfall von 34 Prozent, die Preissteigerungen, ausbleibende Gehälter, dadurch bedingte Hungersnöte – das hat Priorität. Es brodelt im Land immer mehr, tagtäglich gibt es Proteste. Von Bauern, Lehrern, LKW-Fahrern. Aktuell entwickelt sich daraus aber keine Bewegung, weil es keinen Plan und keinen Anführer gibt. Nur die hartgesottenen Fußballfans konnten sich auf die WM freuen. Aber die Euphorie könnte schnell entfacht werden.

Bei allen vier bisherigen WM-Endrunden-Teilnahmen schied Iran in der Gruppenphase aus.
Sollte Iran auch nur ein Tor schießen, strömen die Menschen auf die Straßen und feiern – und zwar alle. Rein sportlich haben sie eine harte Gruppe erwischt mit Spanien und Portugal, Marokko. Man hofft, das Auftaktspiel gegen Marokko irgendwie zu gewinnen, um wenigstens Dritter zu werden. Iran baut auf eine stabile Defensive. In der Asien-Qualifikation blieb man unbesiegt, kassierte erst zwei Gegentreffer, als man das Ticket für Russland bereits sicher hatte.

Wie verfolgen die Iraner eine WM? In Cafés, Restaurants? Gibt es gar Public Viewing?
Nein, Public Viewing kennt man nicht. Schon gar nicht in den Ausmaßen wie in Deutschland mit Riesenleinwänden in Biergärten und tausenden Zuschauern. Jede Ansammlung von Menschen, auch wenn es nur 20, 30 Leute sind, bedeutet im Iran eine Gefahr für die nationale Sicherheit. Deswegen hatte man sogar den Cafés verboten, Fußball zu zeigen. Dies wurde widerrufen. Die Cafés dürfen jetzt Leinwände aufstellen. Aber man sollte sich darauf nicht verlassen. In letzter Sekunde könnte der Geheimdienst das Ganze verbieten.

Dann bleibt den Iranern lediglich, zu Hause zu schauen.
Was sie gewohnt sind. Ihr Privatleben findet im Grunde komplett zu Hause hinter verschlossenen Türen statt. Familienfeiern, Partys – fast alle Freizeitaktivitäten. Sollte ein Tor fallen, kommen die Menschen auf die Straßen. Das ist die größte Angst des Geheimdienstes, der Sicherheitskräfte.

Dann könnte es gefährlich werden, falls resolut dazwischengegangen wird.
Ja, wenn Hunderttausende beziehungsweise Millionen Menschen auf den Straßen sind, können die Sicherheitskräfte nichts mehr machen. Bei der WM 1998 gewann Iran 2:1 gegen die USA, da waren die feiernden Massen nicht zu halten. In solch einer euphorischen Stimmung wird kein Gesetz mehr beachtet. Bei lauter Musik wird auf den Autos getanzt, die Frauen ziehen sich die Kopftücher ab. Es ist schon vorgekommen, dass die Menschen die Sicherheitskräfte zum Tanzen aufgefordert haben. Für einen Moment sind alle Restriktionen und Mauern vergessen. Denn eigentlich wollen alle nur eins: glücklich sein und feiern.

Könnten die Unruhen zu einem Aufstand führen?
Das Regime zittert massiv davor, dass die iranische Mannschaft in Russland Erfolg hat. Das Regime wünscht keinen Sieg, will lieber einen negativen Ausgang – unausgesprochen natürlich. Hassan Rohani, der Staats- und Regierungschef, hat sich nicht zur WM geäußert oder dem Team viel Glück gewünscht. Revolutionsführer Ayatollah Sejjed Ali Chamenei und die gleichgeschalteten Medien sowieso nicht.

Damit dürfte Iran das einzige Team der 32 Teilnehmerländer sein, dessen Regierung auf Distanz zur Landesauswahl geht.
Selbst Saudi-Arabien würde ein Erfolg ihrer Nationalelf im Zuge der Öffnung des Landes in die aktuelle PR-Struktur, ihr Land positiv zu verkaufen, ganz gut reinpassen.

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