Adiós WM: Das Ende der spanischen Fußball-Weltherrschaft
Das Ende ihrer glorreichen Generation kam für die Spanier völlig unerwartet. Mit dem peinlichen Vorrunden-Aus hatte beim WM-Champion niemand gerechnet. Nun steht der entthronte Titelverteidiger vor dem Neuaufbau – und das wohl ohne Trainer Vicente del Bosque.
Rio de Janeiro – Auch am Tag nach dem Ende der glorreichen Fußball-Weltherrschaft stand ganz Spanien unter Schock. Die Presse rechnete mit dem entthronten Titelverteidiger schonungslos ab, Trainer Vicente del Bosque deutete nach dem WM-Vorrunden-Aus bereits Konsequenzen an. In den Katakomben des legendären Maracanã in Rio de Janeiro versuchten seine Stars, Andrés Iniesta, Xavi, Xabi Alonso, Sergio Ramos und Iker Casillas, sichtlich fassungslos Gründe für das 0:2 gegen Chile und das kollektive WM-Versagen zu finden.
Es war der Abschied von der glamourösen Tiki-Taka-Ära am Mittwoch – ausgerechnet an dem Tag, an dem der spanische König Juan Carlos seine Abdankungspapiere unterzeichnete. „The End“, titelte das Sportblatt „Marca“ passend. Eine Zäsur ist unausweichlich. „Es ist ein trauriger Tag für uns“, erklärte del Bosque nach der Demütigung. „Wir müssen überlegen, was das Beste für den spanischen Fußball ist. Es ist Zeit, über die Zukunft nachzudenken. Das gilt auch für mich.“
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Die „selección“, in den vergangenen sechs Jahren immerhin Weltmeister (2010) und zweimal Europameister (2008, 2010) wurde von den Chilenen vorgeführt. In puncto Einsatzwillen, Spielfreude und taktischer Raffinesse waren die Südamerikaner dem Champion meilenweit voraus. „Den Spielern des spanischen Teams zitterten sogar die Schnürsenkel“, kommentierte „El País“ süffisant. Das Sportblatt „Marca“ schrieb: „Zerschmettert! – Vom Himmel in die Hölle. Es war schön, aber im Leben ist alles irgendwann vorbei.“
Nach Italien vor vier Jahren in Südafrika scheiterte damit der nächste – insgesamt fünfte – WM-Champion schon in der Vorrunde. So tief gefallen wie die goldene spanische Generation waren aber selbst Italien (1950 und 2010), Brasilien (1966) und Frankreich (2002) bei ihrem vorzeitigen K.o. nicht. Der 34 Jahre alte Xavi, jahrelang das brillante Gehirn des spanischen Dominanzfußballs, saß versteinert nur auf der Ersatzbank – ein symbolisches Bild.
„Wir waren auf dem höchsten Punkt, jetzt sind wir auf dem tiefsten“, fasste Iniesta, gegen Chile blass bis zur Unkenntlichkeit, das nie für möglich gehaltene Aus noch vor dem letzten Gruppenspiel gegen die ebenfalls bereits gescheiterten Australier zusammen. „Wir waren nicht in der Lage, hungrig zu bleiben und unsere Überzeugung aufrechtzuerhalten, den nächsten WM-Titel zu holen“, gab Iniestas einst kongenialer Mittelfeldpartner Xabi Alonso zu. „Unsere Einstellung war nicht dieselbe wie bei den anderen Turnieren.“
Mit seinem Fehler vor dem 0:1 durch Eduardo Vargas (20. Minute) leitete der Star von Real Madrid die in der Höhe fast noch schmeichelhafte Niederlage ein. Charles Aranguiz machte vor 74 101 Zuschauern im Estádio do Maracanã und 13 Millionen TV-Fans allein in Spanien nach einem neuerlichen Fehler von Keeper Iker Casillas noch vor der Pause für die phasenweise wie entfesselt spielenden Chilenen alles klar. „Spanien war die Titanic“, meinte „El País“. „Ich hätte nie gedacht, dass wir die WM nach der ersten Runde verlassen würden“, sagte del Bosque.
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Der 63 Jahre alte Coach setzte in Brasilien noch einmal voll auf die von ihm zusammengestellte Generation um Iniesta und Co. und schob den von vielen Experten bereits nach der EM 2012 in Polen und der Ukraine geforderten Umbruch ein letztes Mal auf. Ein Fehler, wie del Bosque schmerzhaft vor Augen geführt bekam. In sozialen Netzwerken mussten Spaniens Fußballhelden viel Spott ertragen. Statt Tiki-Taka heiße es jetzt taca-taca, ist dort etwa zu lesen. Tiki-Taka ist der berühmte Kombinationsfußball der „selección“, taca-taca werden in Spanien Rollatoren genannt.
Mit den Gegentreffern sechs und sieben übertrafen die Spanier bereits nach zwei Spielen ihre Gesamtquote ihrer siegreichen Turniere 2008, 2010 und 2012. Die wacklige Defensive um den in Brasilien ebenfalls erstaunlich kraft- und emotionslosen Sergio Ramos, jahrelang ein wichtiger Mosaikstein spanischer Erfolge, war ein Grund für das Desaster. Ein anderer war die verloren gegangene Selbstverständlichkeit in den Aktionen der Tiki-Taka-Künstler.
Nur 81,7 Prozent der Pässe der gewöhnlich so ballsicheren Iberer fanden den Weg zum Mitspieler - sprich jedes fünfte Zuspiel landete bei einem Chilenen oder im Niemandsland. Auch 56 Prozent Ballbesitz bedeuteten einen enttäuschenden Wert der stets auf Dominanz bedachten Spanier. „Die Realität ist wie sie ist: Dieses Team hatte es nicht verdient, die nächste Runde zu erreichen“, gestand Kapitän Casillas
Der 33-Jährige wird beim nun anstehenden Neuaufbau ebensowenig dabei sein wie viele andere prominente Gesichter. „Die Rüge muss allumfassend sein, beginnend mit mir“, sagte Casillas. Auch Spieler wie Fernando Torres und die schon gegen Chile ausgebooteten Gerard Pique und Xavi dürften in Zukunft keine Rolle mehr spielen. Selbst Stars wie Iniesta, Sergio Busquets oder Alonso sind nicht mehr gesetzt.
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Die neue Generation um Bayerns Thiago, Koke von Atlético und ManUnited-Keeper David de Gea steht bereit. Del Bosque, seit 2008 für die von allen in der Welt unerreichten rot-gelben Ballkünstler verantwortlich, wird den Neuanfang aller Voraussicht nach nicht mehr anleiten, auch wenn sein Vertrag noch bis 2016 läuft.
„Solche Ergebnisse haben immer Konsequenzen. Aber das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Wir müssen uns ein bisschen Zeit nehmen und analysieren, wie es weitergeht. Das gilt auch für meine Person“, sagte del Bosque, ehe er mit gesenktem Haupt den Pressesaal verließ – „The End“.