Fünf Ringe fürs Menscheln, keinen für die Freiheit
PEKIING - Zwischen St. Pauli und Archipel Gulag – so hat der AZ-Reporter diese Spiele erlebt. Eine Bilanz
Sonntag drehen sie das Feuer über dem Vogelnest ab, das war’s dann. Olympia geht vorbei, die Spiele von Peking, die in den letzten Jahren so viel diskutiert wurden und umstritten waren gehen zu Ende. Wie es war? Die Bilanz der AZ samt Bewertung: von fünf Ringen (gigantisch) bis null (nicht olympiawürdig).
STIMMUNG
Fad. Einbestellte Claqueure mussten leere Plätze füllen. Nur beim Tischtennis war’s ein Inferno, die Halle als Hölle. Die 7500 machten zehnmal mehr Radau als 91000 im Olympiastadion. Das Vogelnest meist mäuschenstill, da hätte man selbst gehört, wenn in Peking ein Radl umfällt. Zu hören war meist nur das Rauschen der Zündflamme auf dem Hallendach. Zisch. Außer „Jia You“, auf geht’s, fielen den Chinesen keine lustigen Rufe ein. Gar keine böse Absicht, sie können es nicht anders. Aber halt langweilig. Ringe
FREIHEIT
Wenig. Von 77 beantragten Protestkundgebungen in den drei Parks mit Demonstrationszonen wurden genau 77 abgelehnt. Das ist eindeutig. Zwei Frauen im Alter von 78 und 76, die wegen der Olympia-Bauten enteignet worden waren, hatten fünf Mal bei der Polizei um Erlaubnis für einen Protest gebeten. Verhandlungen laufen. Nun droht ihnen ein Arbeitslager. 0 Ringe
VERKEHR
Lief gut. Der Pekinger hielt sich an die abwechselnden Fahrverbote für gerade und ungerade Nummernschilder, die Olympia-Spur war immer frei. Brav. Staus gab es – mit Ausnahmen – nur wenige. Schon die alten Olympia-Erfinder in Griechenland sagten: Panta rhei. Alles fließt. Selbst der Verkehr in Peking. 4 Ringe
MEDIEN
Alles in staatlicher Hand. Nur wohlwollende Hofberichterstattung über die Spiele, vor allem im Jubelorgan „China Daily“. Abgedruckt wurden begeisterte Leserbriefe ausländischer Besucher. Kritische nicht. In einem 21-Punkte-Plan hatte das KP-Regime den Redaktionen ja auch angeschafft, was geschrieben werden darf – und was nicht. Daran hielten sie sich auch. 0 Ringe
VOLUNTEERS
Die heiteren Helfer. 1,7 Millionen Freiwillige. Mehr als ganz München. Hätt’s gar nicht gebraucht, waren viel zu viele. Aber China hat ja auch viele Menschen. Manchmal standen sie zu zehnt beim Taxieinweisen, wo einer allein auch gereicht hätte. Manche hatten gute Jobs als Platzanweiser im Olympiastadion etwa. Da sahen sie auch Sport. Andere hatten weniger gute. Als Busbegleiter, 16 Tage die gleiche Strecke, zehn Stunden am Tag. Da sahen sie grantige Journalisten. Trotzdem waren sie stets freundlich und geduldig. Xie Xie. Danke. 5 Ringe
POLITIK
Hat natürlich viel mit Sport zu tun, auch wenn man gerne anders behauptet. Die georgischen Beachvolleyballerinnen, die den Sieg gegen ein Russen-Duo instrumentalisierten. Der Iraner Mohammed Alirezaei, der seinen Vorlauf ausließ, weil er gegen einen Israeli schwimmen musste. Sagenhaft lächerlich, aber nichts Neues. Macht der Iraner immer bei Israelis. Oder Davey Johnson, US-Baseball-Coach, der auf die bösen Erzfeinde aus Kuba schimpfte, weil er meinte, die würden seine Spieler beim Ballschmeißen absichtlich verletzen. Die Politisierung des Sports tut weh. 1 Ring
SICHERHEIT
Musste auch sein. Logisch. Die Uniformierten waren zahlreich präsent, aber erfrischend defensiv. Anders als in Athen mit dem aggressiven Aufmandln der griechischen Beamten. Zum Schluss wurden die Kontrollen hier aber immer lässiger. Gestern ging man trotz Dauerpieps am Metalldetektor einfach durch, weil der Beamte gerade mit einer Volunteerin flirtete. Toll. Ein autoritärer Überwachungsstaat, aber keiner passt auf. Obacht. 3 Ringe
MENSCHELFAKTOR
Gewaltig. Gewichtheber Steiner, der für seine tote Frau gewann. Die beinamputierte Langstreckenschwimmerin Natalie du Toit, Martin van der Weijden, dessen Sieg über die Leukämie größer war als der im 10 Kilometer Schwimmen, oder die kanadische Badmintonspielerin Anna Rice, die sagte, die Begegnung mit Menschen aus aller Welt habe sie so beeindruckt, dass sie jetzt nach Uganda gehen wolle, um Kindern zu helfen. Fast schon kitschig. Aber wenn nicht bei Olympia, wo dann. 5 Ringe
PARALYMPICS
Gehen bald los, am 6. September. Höchste Zeit, vor allem, weil China noch immer ein großes Problem mit Behinderten hat. „Die Menschen hier haben Behinderte immer verachtet“, sagt Li Keqiang, Schwimmtrainer der chinesischen Paralympia-Mannschaft, der selbst nur noch einen Arm hat. „Sie glaubten alle, wir seien Bettler. Ich hoffe, dieses Bild wird sich wandeln.“ Und wenn sie jetzt nach den Paralympischen Spielen sauber machen, dann haben sie hoffentlich auch alte Vorurteile entsorgt. 5 Ringe
WAS BRINGT’S PEKING?
Stadien als schöne Erinnerung, aber vielleicht bald auch als Bauruinen. Der Unterhalt des Olympiastadions kostet mehrere Millionen im Jahr. Der Erstligaklub FC Guoan wird im September ins Vogelnest einziehen, Firmen buhlen bereits darum, für rund 300 Millionen Euro die Namensrechte am Olympiastadion für 30 Jahre zu kaufen. Bleiben wird eine billige U-Bahn, die Fahrt kostet 20 Cent. Auch die Luft soll so gut wie in der letzten Woche bleiben, ein Rauchverbot wollen sie auch einführen. Erst mal durchschnaufen und abwarten. 3 Ringe
UND DEM BESUCHER?
Dem bleibt die Hoffnung auf ein Engagement von Pekings U-Bahn-Chef als Tarifgestalter beim MVV. Dazu neue Eindrücke, ein erstes Herantasten an die fremde Kultur. Drei Wochen, zu kurz fürs tiefe Verständnis, aber genug, um die Absurdität einer Gesellschaft zu sehen, zwischen kommunistischem Kaderdenken und kapitalistischem Kommerz, zwischen Hierarchie und Anarchie. Genug, um zu differenzieren zwischen Autorität des Regimes und Lebensfreude der Menschen. Ein Land mit finsteren Gefängnissen und strahlenden Shopping-Malls, ein Land zwischen Arbeitslagern und Vergnügungsmeilen. Zwischen Archipel Gulag und St. Pauli. Schon rein erfahrungshalber und zum guten Schluss: 5 Ringe