Interview

Frank Busemann zu den European Championships in München: "Eine goldene Explosion!"

Der gebeutelten deutschen Leichtathletik gelingt bei der EM in München ein Befreiungsschlag. In der AZ spricht Zehnkampf-Ikone Frank Busemann über das Event, den Heimvorteil - und Säbelzahntiger.
von  Matthias Kerber
Die schnellsten Mädels Europas: Lisa Meyer, Gina Lückenkemper, Alexandra Burghardt und Rebekka Haase (v.l.) gewinnen in der 4 x 100-Meter-Staffel bei den European Championships in München Gold für Deutschland.
Die schnellsten Mädels Europas: Lisa Meyer, Gina Lückenkemper, Alexandra Burghardt und Rebekka Haase (v.l.) gewinnen in der 4 x 100-Meter-Staffel bei den European Championships in München Gold für Deutschland. © Soeren Stache/dpa

München - AZ-Interview mit Frank Busemann: Der jetzt 47-Jährige gewann bei den Olympischen Spielen 1996 in Atlanta sensationell die Silbermedaille im Zehnkampf, ein Jahr später holte er bei der WM Bronze. Seit 2003 arbeitet er als Experte für die ARD.

AZ: Hallo, Herr Busemann, was sagen Sie, der Silbermedaillengewinner der Olympischen Spiele 1996 im Zehnkampf zu diesen European Championships in München? Gerade die Leichtathleten haben - überraschend - für eine wahre Medaillenflut gesorgt.
FRANK BUSEMANN: Sie müssen lauter sprechen, ich bin noch ein bisschen taub nach all dem Lärm im Stadion. Dass die Leute immer so brüllen müssen (lacht). Man muss einfach sagen, es waren unglaubliche Tage in München, was die Leistungen der Athleten betrifft - aber auch was Ambiente und Stimmung angeht. Ich habe einige Leute getroffen, die waren das allererste Mal live bei einer Leichtathletik-Veranstaltung, die haben gleich gesagt: Wir müssen nie wieder auf so ein Event gehen, besser wird es nicht mehr, kann es nicht werden. Zum Sport muss man sagen: Nach dem Fiasko vor einem Monat bei der WM in Eugene, als die deutsche Mannschaft nur zwei Medaillen geholt hat, war mit dieser goldenen Explosion nicht zu rechnen. Wir haben alle gehofft, dass es besser wird als Eugene - schlechter könnte es kaum sein -, dass es aber so wird, damit hat doch keiner gerechnet. Wir kamen ja auch fast amerikanisch daher: mehr Goldene als andere Medaillen.

Der ehemalige Zehnkämpfer Frank Busemann.
Der ehemalige Zehnkämpfer Frank Busemann. © Michael Kappeler/dpa

"Wir sind die Könige von Europa" 

Wobei Sie ja vor der EM 14 Medaillen der Leichtathleten prognostiziert hatten.
Ich hatte mir einen Zettel geschrieben - und kam zu diesem Ergebnis. Ich könnte mich jetzt als den großen Experten feiern, aber ich fürchte, dass ich, wenn ich den Zettel hervorkrame, feststellen würde, dass ich zwar bei der Gesamtzahl der Medaillen gut lag, aber möglicherweise bei 80 Prozent der Athleten falsch. Daher analysiere ich es lieber nicht zu genau (lacht). Ich habe zum Beispiel mitten im Marathon der Männer gesagt, dass ich glaube, dass wir Erster und Vierter werden. Ich hatte aber gedacht, dass Richard Ringer Vierter wird und dann sprintet der auf den letzten Metern los, als habe er noch keinen Marathon in den Beinen und der führende Israeli denkt nur, das ist der Wind, der an mir vorbeizieht, kein Gegner. Jetzt sind wir die Könige von Europa - das konnte keiner vorhersehen - oder auch nur erahnen.

Gutes Endergebnis hat drei Ursachen 

Wie kann man diese goldene Explosion, wie Sie es nannten, erklären? Heimvorteil?
Dafür gibt es drei Gründe. Zum einen muss man feststellen, dass für viele deutsche Athleten Eugene nur eine Durchgangsstation war - auch, wenn eine WM sowas nie sein sollte. Aber der Fokus lag für viele Sportler auf der EM, auf München. Der zweite Grund ist dieser Heimvorteil. Wenn man allein gesehen hat, wie die deutschen Athleten ins Stadion kamen, welche Euphorie da herrschte, wie die Sportler voller Adrenalin und Endorphinen waren - Wahnsinn! Das setzt ungeheure Kräfte frei. Von der Evolution her, ist diese Reaktion nur dafür vorgesehen, dass du handlungsfähig bist, wenn der Säbelzahntiger hinter dir her ist und deinen Allerwertesten verspeisen will. Hier hatten die Athleten zum Glück keine Todesangst, sondern es hat Kräfte freigesetzt, von denen sie wahrscheinlich selber nicht wussten, dass sie diese haben.

Und drittens?
Das ist der Wohlfühlfaktor, wenn man in gewohnter, vertrauter Umgebung ist. Man kennt alles, weiß alles, weiß, wie die Margarine im Supermarkt schmeckt, wo man Getränke herkriegt, man verschwendet keine Energie in fremden Sprachen, sich zurechtzufinden, den richtigen Bus zu finden. Das spart Kräfte, lässt dir die Chance, dich aufs Wesentliche zu konzentrieren.

Speerwurf-Gold: Julian Weber.
Speerwurf-Gold: Julian Weber. © picture alliance/dpa

"Vor 20 Jahren war ich bei der EM Kolumnist für die AZ"

Ist bei Ihnen ein weinendes Auge dabei, dass Sie so ein Event nicht mehr als aktiver Sportler mitgemacht haben?
Ach, alles gut. Klar wäre ich auch gerne mal für ein paar Tage der Rockstar gewesen. Aber ich habe einiges erlebt. Als Athlet, aber auch so. Ich habe mich etwa dran erinnert, dass ich 2002 bei der EM hier in München für die Abendzeitung als Kolumnist gearbeitet habe. 20 Jahre, das ist schon fast erschütternd lang her. Ich habe mir damals übrigens extra wegen des AZ-Jobs das allererste Laptop meines Lebens gekauft. Ich habe sogar noch einen IT-Experten vorher gefragt, was ich mir für die Aufgabe kaufen soll, der meinte: Irgendeins. Ich dachte nur: Vielen Dank, wenn das ein Experte ist, dann kann ich auch Experte sein, kein Problem. (lacht)

Wer war Ihr persönliches Highlight dieser EM?
Ich sage jetzt das ausgelutschteste Wort überhaupt: die Mannschaft. Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft schafft für sich diesen Slogan gerade ab, aber hier bei uns wurde er eben mit Leben erfüllt. Klar, eine Gina Lückenkemper, die beim Zieleinlauf im 100-Meter-Lauf über die Linie stürzt, so Gold holt, sich dabei aber eine blutende Wunde zuzieht, ist sicher eines der Bilder dieser EM. Ich habe ihr danach schon gesagt: "Gina, in 30 Jahren kannst du auf die Narbe zeigen und den Enkeln sagen: Es sieht zwar scheiße aus, aber es hat mir Gold gebracht." Auch Zehnkämpfer Niklas Kaul war magisch. Er lag 600 Punkte zurück und hat dann die größte Aufholjagd der Geschichte des Zehnkampfes hingelegt - Gänsehaut!

"Für mich wirkt so ein Ereignis in die Gesellschaft hinein"

Was halten Sie vom Vorstoß von Leichtathletik-Boss Jürgen Kessing, der die Leichtathletik wieder aus den Championships ausgliedern und dann als Einzel-EM ausrichten will?
Nichts. Ich denke, wir haben von diesen Championships alle profitiert. Es ist ja nicht so, dass die Sponsoren der Leichtathletik täglich die Türen einrennen würden und wir bei unseren Wettkämpfen die Stadien wegen Überfüllung schließen müssen und noch 300.000 Fans vor den Toren stehen, die keine Karte gekriegt haben. Es war jetzt ein tolles Event, nur die Preise waren zu hoch. Für mich ist so eine EM ein Ereignis, das in die Gesellschaft hineinwirkt, da sollte man nicht noch den letzten Cent aus den Leuten, die gerade ganz andere Sorgen haben, rausquetschen. Wobei ich glaube, dass wir den Menschen mit diesen Championships in diesen schwierigen Zeiten ein Stück Freude, ein Lachen geschenkt haben.

"Dieses Fest der Freude in München war einzigartig"

Es gibt nun Gedanken, ob es gut wäre, wenn sich München wieder um Olympische Spiele bewerben würde. Eine sinnvolle Diskussion?
Für mich ist es immer sinnvoll, denn ich liebe den olympischen Gedanken, dieses Miteinander. Ich bin mir sicher, dass die Menschen diese Idee auch lieben, aber vom Gigantismus des IOC abgestoßen sind. Kein Mensch will, dass für 15 Milliarden Beton-Ruinen hingestellt werden, die keiner je wieder verwendet, aber wir keine Schulen bauen können. Das IOC muss dringend umdenken, die Menschen glauben nicht mehr, dass es bei Olympischen Spielen noch um den olympischen Gedanken geht. München hat sich aber so präsentiert, dass jeder sagt: Olympia hier wäre toll. Ich habe bisher immer gesagt, die WM 1993 war das geilste Event, dann kam Olympia 2012 in London, die haben dazu aufgeschlossen. Aber was in München los war, dieses Fest der Freude, war einzigartig. Ich muss es noch sacken lassen, aber was ich sagen kann: Was sollte man besser machen? Mir fällt nichts ein.

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