Fliegen statt fliehen

Der einstige Topstar Martin Schmitt, bislang völlig außer Form, startet ab heute zum 16. Mal bei der Vierschanzentournee. Erstmals ist offen, ob der 32-Jährige bei allen vier Stationen dabei sein wird
von  Abendzeitung
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Der einstige Topstar Martin Schmitt, bislang völlig außer Form, startet ab heute zum 16. Mal bei der Vierschanzentournee. Erstmals ist offen, ob der 32-Jährige bei allen vier Stationen dabei sein wird

OBERSTDORF Die Fragerunde war zu Ende, und Bundestrainer Werner Schuster hätte seine Jungs vom Podium einsammeln und zum nächsten Programmpunkt eilen können. Draußen vor dem Kurhaus warteten in der Allgäuer Kälte die Fans. Auf die Eröffnungszeremonie der 59. Vierschanzentournee, auf das deutsche Team. Und natürlich auf Martin Schmitt, der für viele immer noch der große Martin Schmitt ist. Der aus der goldenen Zeit, als ein deutscher Sieg selbstverständlich war. Den aktuellen Martin Schmitt, der es in der sieben Weltcupspringen alten Saison genau ein Mal in den zweiten Durchgang schaffte und auf Rang 44 des Gesamtweltcups dümpelt, den wollen die Leute nicht wahrhaben. Dann gäbe es vor dem Start der Tournee am heutigen Mittwoch in Oberstdorf (16 Uhr, ZDF live) ja gar nichts zu jubeln.

Doch die Fans müssen warten. Drinnen will der Bundestrainer noch etwas sagen, ungefragt. Zuvor hatte er über den „holprigen Saisonstart“ gesprochen, die jüngsten Erfolge in Engelberg, die Bedeutung von „Bewegungssicherheit“, die Chancen seiner Jungs, denen er „nach den Trainingseindrücken eine Überraschung zutraut“. Dann sprach er über Martin Schmitt. Und wie!

„Martin stellt sich nochmal der Herausforderung, und zwar nicht nur kurzfristig, sondern in einem mehrjährigen Projekt. Vor zwei Jahren war er nahe dran, aber nicht richtig. Er hat weit ausgeholt. Wer schon mal seinen Golfschlag umgestellt hat, weiß: Er wird erstmal gar nichts treffen – aber dann so gut wie nie zuvor. So ist es auch bei Martin. Irgendwann wird der Knopf aufgehen, ob morgen, übermorgen oder erst in einem Jahr. Wie auch immer: Meinen Respekt hat er!“

War das derselbe Werner Schuster, der wenige Tage zuvor noch kräftig gegen die Routiniers Schmitt, Uhrmann & Co. gewettert hatte? „Diese Demut, die es am Anfang bei den Athleten gab, ist nicht mehr in diesem Maße vorhanden. Deshalb ist es auch schwieriger, speziell bei den arrivierten Athleten, Veränderungen herbeizuführen. Die sind nur noch begrenzt steuerbar. Man kann gewisse Dinge auch mit der größten Sportkompetenz nicht aufhalten“, sagte Schuster unlängst. Und drohte, bei der Nominierung keine Rücksicht mehr auf große Namen zu nehmen.

Schon in der Vorbereitung hätten die Youngsters Severin Freund und Pascal Bodmer das Niveau in der Mannschaft bestimmt, plauderte Schuster aus dem Nähkästchen, „nicht einen Tag lang, sondern über Wochen und Monate. Da kam weder der Uhrmann hin noch der Neumayer oder der Schmitt. Diese Situation hat es seit bestimmt zehn Jahren nicht gegeben.“

Und nun dieses Lob vom Coach. Schmitt (32) wird es gebrauchen können. Es ist seine 16. Vierschanzentournee, und erstmals seit sehr vielen Jahren weiß er nicht, ob er sie zu Ende springen kann oder darf. Nachdem er es in den ersten drei Springen der Wintersaison nicht unter die besten 30 geschafft hatte, nahm er sich auf Anraten des Bundestrainers eine Auszeit: vier Tage Training in Lillehammer, „um Sicherheit und Vertrauen zu gewinnen, das geht schlecht an einem Weltcup-Wochenende“, so der 32-Jährige.

Auch beim anschließenden gemeinsamen Trainingslager in Oberstdorf habe er „am Anfang Schwierigkeiten gehabt“, konnte noch nicht so recht „alle Teile meines Sprungs zusammen bringen“. Aber auch bei seiner 16. Tournee habe er „denselben Ehrgeiz wie vor zehn oder 15 Jahren, sonst wäre ich nicht hier“. Fliegen statt fliehen! Schmitt springt also weiter. Nur den Ehrgeiz müsse er „in die richtige Bahn lenken; der kann einem im Weg stehen“.

Allerdings klingen auch Zweifel durch: „Ich gehe ohne besondere Erwartungen in die Tournee. Ich war schon besser in Form, aber auch schon schlechter. Was es wert ist, kann ich selbst nicht einschätzen. Man kann es halt nicht erzwingen.“ Zuversicht klingt anders. Kampflos wird er seinen Platz aber nicht hergeben: „Ich habe in dem Jahr sehr viel investiert.“

Wenig später, draußen vor den Fans, ist man bei der Eröffnungszeremonie in Verzug: Ohrenbetäubend laut läuten die Glocken, so dass der Moderator nur noch fragen kann, wie es der Martin denn mit der Kirche halte, ob er vor der Tournee eine Kerze angezündet habe. Schmitt sagt nur: Kirche ja, Kerze nein. Und er meinte wohl: Das muss ich schon selbst schaffen, ohne fremde Hilfe. Thomas Becker

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