Federers Traum wird wahr
LONDON - Nie hatte Wimbledon ein dramatischeres Finale erlebt: Nach vier Stunden Kampf triumphierte Roger Federer über Andy Roddick. Mit seinem 15. Grand Slam Sieg ist der Schweizer nun der Beste aller Zeiten. AZ-Reporter Jörg Allmeroth berichtet aus London.
Als er genau um 19.28 Uhr zum mächtigen Freudensprung in die Luft abhob, im erlösenden Moment des Triumphs, da hatte er der Welt auch schwarz auf weiß den Beweis seiner Einzigartigkeit in einem einzigartigen Duell geliefert. Den offiziellen Beweis, dass er, Roger Federer, der Beste aller Zeiten ist – und das Nonplusultra über alle Tennis-Generationen hinweg: „Es ist wie ein wunderbarer Traum. Das ist einer der glücklichsten Augenblicke meiner Karriere“, sagte Federer, der mit dem extremen 5:7, 7:6 (8:6), 7:6 (7:5), 3:6, 16:14-Langstreckensieg gegen Andy Roddick (USA) als erster Mensch mindestens 15 Grand Slam-Titel gesammelt hatte.
Mit dem halben Dutzend Wimbledon-Siegen kam Federer jetzt auf einen Major-Triumph mehr als der ehrwürdige Pete Sampras, der aus der Royal Box ohnmächtig mitansehen musste, wie sein scheinbar für alle Ewigkeiten aufgestellter Rekord vom unersättlichen Genie Federer ausgelöscht wurde – nur sieben Jahre nach dem Rücktritt des „amerikanischen Scharfschützen“ (The Sun). Die einzige Bestleistung in einem Endspiel mit unfassbarer Intensität und ausdauernder Klasse, das keinen Deut schlechter war als der Federer/Nadal-Zweikampf des Jahres 2008, war das nicht: Denn niemals zuvor hatte es einen fiebrigen Schlussakt mit so vielen Spielen wie an diesem 5. Juli gegeben, mit 30 Spielen am Rande des Wahnsinns und der Erschöpfung. Fest stand dies: Es war eine sportliche Grenzerfahrung und ein Finale der Superlative, das nicht besser zu Federers neuem Rekord hätte passen können.
Unter den Augen eines Großaufgebots von Tennis-Granden (Björn Borg, Rod Laver, Guilermo Vilas, Ilie Nastase) und Promis aus Politik, Sport und Show (Russell Crowe, Woody Allen, Henry Kissinger, Alex Ferguson, Ben Stiller, Michael Ballack, David Coulthard) war Federers zweites „Rendezvous mit der Unsterblichkeit“ (The Independent) binnen weniger Wochen erst nach einem neuen Rasen-Klassiker perfekt: Der stolze French Open-Champion siegte keinesfalls in der Pose des schwerelos leichten Künstlers, sondern als unerbittlicher Malocher, der niemals, wirklich niemals aufgab. Der wiederauferstandene und runderneuerte Roddick spielte zwar das Spiel seines Lebens, als Ballermann mit Köpfchen und Raffinesse, aber am Ende des Tages war selbst das nicht gut genug für Federer. Wie schon in den Jahren 2004 und 2005 ging Roddick als zweiter Sieger im Endspiel vom Platz, nur dass er dieses Mal Federer bis ans absolute Limit gefordert und sehr ernsthafte Chancen auf den Sieg besessen hatte - auf den dritten Sieg im 21. Match gegen den sympathischen und doch so unerbittlichen Schweizer Spielverderber. Federer verwertete beim Matchball zum ersten Mal in diesem 4:17-Stunden-Thriller überhaupt eine Breakchance gegen Roddick.
Im nachhinein war es nicht schwer, einen der wichtigsten Momente dieses spannungsgeladenen Duells auszumachen – jene vier Minuten im Tiebreak des zweiten Satzes, die dem bis dahin im Finale klar dominierenden Roddick vermutlich noch bis zum Ende seiner Tennistage als Alptraum im Hirn herumspuken dürften. 6:2 hatte der bärenstarke Amerikaner in der Glückslotterie geführt, und alles, aber auch alles deutete daraufhin, dass er sich mit diesen vier Satzbällen so gut wie sicher einen 2:0-Vorsprung und damit auch die entscheidende Basis für einen Finaltriumph herausgespielt hatte. Doch ausgerechnet da verließ den Ballermann aus Texas seine ganze Aufschlag-Herrlichkeit, sowohl bei 6:2-Führung wie später bei 6:5-Vorsprung kam der erste Aufschlag nichts ins Feld. Und beim zwölften Punkt im Tiebreak vergab Roddick zu allem Überdruß noch einen Volley gegen Federer, den er sonst morgens nach dem Aufstehen mit links erledigt hätte. „Das war die Chance, Federer in die Knie zu zwingen. So etwas darfst du nicht auslassen“, befand in der BBC Altmeister Boris Becker.
Roddick verdrückte sich nach dem 6:8 im Tiebreak erst einmal mit grimmigem Gesicht zu einer Toilettenpause ins Klubhaus, doch gegen den wachgerüttelten Federer wurde seine Aufgabe nun ungleich schwerer. Aber der Amerikaner gab nicht nach, rettete sich trotz größerer Aufschlagprobleme in einen weiteren Tiebreak in Satz 3. Wie Federer wehrte Roddick Satzbälle ab, bei einem 3:6-Rückstand, doch eine Aufholjagd mit Happy-End unterband der Schweizer eiskalt mit dem Big Point zum 7:5. Aber Roddicks Kämpferherz hatte noch nicht aufgehört zu schlagen – und er wurde auch belohnt für seine Unverdrossenheit, als er in Satz vier dem erneut zu leger wirkenden Federer den Aufschlag zum 3:1 abnahm. Der Rest bis zum 6:3-Satzgewinn und 2:2-Satzausgleich war dann nur Formsache für Roddick. Aber er feuerte weiter aus allen Rohren, kämpfte unwiderstehlich auch im Schlussakt. Und so musste das Match kaum den Vergleich mit dem Finale des Vorjahres scheuen, des besten Tennisspiels aller Zeiten. Beim 8:8-Gleichstand hatte Roddick sogar zwei Breakbälle zur Führung, aber Federer entwand sich aus der Bedrohung, ging seinerseits 9:8 in Front. Roddick musste ständig nachziehen, war in größerer Gefahr, aber erst beim 14:15 kam schliesslich das grimmige Ende für den großartigen Kämpfer.
Federers Vorstoß in eine neue Tennis-Dimension kam auf der wichtigsten, aber sozusagen auch richtigsten Bühne des Wanderzirkus – denn kein anderer Spiel-Platz hatte die Karriere des artistischen Eidgenossen ja mehr geprägt und diktiert als Wimbledon. Vor acht Jahren kündigte sich Federer an einem sonnigen Junitag mit dem atemraubenden Erstrundensieg über den großen Pete Sampras erstmals als kommende Größe der Tour an, 2003, zwei Jahre später, strafte er mit seinem ersten Grand Slam-Titel auf dem Heiligen Rasen alle Kritiker Lügen, die ihm hartnäckig vorgeworfen hatten, er verschleudere seine einzigartigen Talente mit allzu lässigen Auftritten. Vor zwei Jahren dann rückte Federer mit seinem fünften Wimbledon-Titel in Serie in die Liga der aussergewöhnlichen Tennis-Gentleman vor, auf Augenhöhe mit einer Ikone wie Björn Borg – gerade die Einstellung dieses Rekords hatte sich der geschichtsbewusste Maestro mit heißem Herzen gewünscht, so sehr wie nur den ersten French Open-Titel seiner Karriere, der ihm vor vier Wochen in Paris zufiel.
Auch dass er Borg nicht mit einem halben Dutzend Triumphe übertrumpfen konnte im legendären Centre Court-Drama des Vorjahres, war ein wegweisender, bestimmender Moment in Federers Tennislaufbahn. Denn im ebenso unglücklichen wie niederschmetternden Scheitern gegen Nadal, den ersten Konkurrenten, der sich auf Augenhöhe zu ihm aufgeschwungen hatte, erkannte Federer die Notwendigkeit, seinem Spiel wieder neue Impulse zu verleihen und noch härter in die Trainingsarbeit zu investieren. Wie er sich in den letzten zwölf Monaten aus einem Kanon von Krisen-Schlagzeilen, von Debatten um seinen trainerlosen Zustand und von öffentlichen Zweifeln an seiner körperlichen Fitness wieder emporschraubte zum Allmächtigen Roger, das untermauerte höchst bemerkenswert die trotzige Kämpfernatur, die auch in Federer steckt. „Unter der Oberfläche des eleganten Künstlers schlummert bei Federer ein feuriger Fighter“, sagte gestern der dreimalige Wimbledon-Champion Boris Becker, „sonst hätte er niemals diese Siege erringen und über vier Jahre an der Spitze der Weltrangliste stehen können.“
Auf den Gipfel kehrt der größte Spieler seiner Epoche nun auch wieder zurück, ab dem 3. August wird ihn der Computer der Spielergewerkschaft ATP erneut als Nummer eins führen - den netten Diktator aus dem kleinen Alpenland. Aber Federer weiß in diesen späten Jahren seiner Karriere besser als je zuvor, dass Macht auch den Besten nur auf Zeit verliehen wird – er hat es selbst in seinem Garten Eden Wimbledon im letzten Jahr aufs Bitterste erlebt, mit der Niederlage gegen den Mallorquiner Nadal.
Jörg Allmeroth