Federer: Mann der Stunde - die gefühlte Eins
Auch ohne 2011 einen Grand-Slam-Sieg gefeiert zu haben, ist Roger Federer plötzlich wieder der Top-Favorit bei der Tennis-WM in London. Am Sonntag geht’s gleich gegen Tsonga
London - Spieler des Jahres war er in vielen Tennisserien mit einer Selbstverständlichkeit, die seine Rivalen fast schon in die Kapitulation trieb. Und auch der Platz an der Spitze der Weltrangliste war ihm zwischenzeitlich so sicher, dass es auf höchstem Niveau langweilig wurde mit ihm, dem sanften, aber unbarmherzigen Regenten. Beides wird Roger Federer bei der Weltmeisterschaft der Profis, dem ATP World Tour Finale in der Londoner 02-Arena, nicht mehr erreichen können, weder den Ehrentitel für den stärksten Profi 2011 noch den statistisch unumstößlichen Beweis dafür. Aber wenn einem Mann auf der Zielgeraden dieser Saison zugetraut wird, das letzte und machtvolle Wort auf dem Centre Court sprechen zu können, dann Federer.
„Roger ist so etwas wie der Mann der Stunde. Der Spieler, den es ohne Zweifel für den Pokalsieg zu schlagen gilt”, sagt Legende John McEnroe. Am Sonntag bestreitet Federer sein erstes Gruppenspiel der Vorrunde gegen den Franzosen Jo-Wilfried Tsonga.
Am Ende einer überlangen, strapaziösen, nervlich wie körperlich ungemein herausfordernden Serie rückt auf einmal wieder Federer ins Scheinwerferlicht – der Mann, der erstmals seit 2003 ein ganzes Jahr lang keinen Grand Slam-Titel in den Händen hielt. Doch wo sich seine Konkurrenten aus dem Eliteklub der Großen Vier, also Novak Djokovic, Rafael Nadal und Andy Murray, gerade im Herbst mit allerlei größeren und kleineren Wehwehchen herumplagten, kam Federer nach längerer Spielpause aus der Tiefe des Tennisraums hervor und eroberte in seiner Heimatstadt Basel und gerade auch beim Masters-Turnier in Paris die Siegtrophäen.
Beobachter entdeckten auf einmal beim Maestro wieder jene außergewöhnlichen, faszinierenden Schlagkombinationen, mit denen er einst seine Ausnahmestellung begründet hatte. „Federer scheint nicht nur seine Kraft, sondern auch seine Magie zurückzufinden”, sagt Tim Henman, in der kommenden Woche für die BBC im Einsatz.
"Irgendwie ist der alte Schwung neu da"
Auf dem extrem hohen Niveau der vier besten Tennisspieler der Welt ist schwer auszutarieren, welche Faktoren nun wirklich entscheidend zum Aufschwung des Schweizers beigetragen haben: Die etwas schwächere Taktzahl, in der seine härtesten Konkurrenten ans Hand-Werk gehen. Oder die wieder zupackendere, selbstbewusstere und kraftvollere Attitüde, die Federer selbst mitbringt zu seinen Aufgaben auf den Centre Court. „Ich fühle mich nicht gerade als Profiteur der Schwäche von anderen”, sagt der 30-jährige Altmeister, „ich genieße mein Spiel einfach in vollen Zügen. Und irgendwie ist der alte Schwung neu da.”
So scheint Federers 100. Endspielteilnahme auf der Tennistour und der 69. Titelgewinn seit jenen ersten Tagen des Jahres 1998 möglich, als er als Lehrling im Nomadenbetrieb der Profis seine ersten Erfahrungen sammelte. „Ich habe meinen Traum leben dürfen. Viele, viele Jahre lang. Das war ein echtes Privileg”, sagt Federer, der spätestens ab 2005 die alles beherrschende Figur in seinem Sport war, einer, der wie sonst nur der Golfer Tiger Woods eine Einzelsport global beherrschte.
Ähnlich zurückgefallen wie Woods, der nicht mehr so enge Freund, ist Federer nie. Den Begräbnisrednern und Untergangspropheten hat er schon oft genug eine lange Nase gedreht. „Gefühlt ist er gerade wieder die Nummer 1”, sagt Jimmy Connors, der US-Kämpfer vergangener Tage. Connors hatte Federer auch nach dem traumatischen Scheitern im US Open-Halbfinale gegen Djokovic, in dessen Verlauf er wieder wie im Jahr 2010 zwei Matchbälle vergeben hatte, aufmunternd zurückgerufen, seine Zeit sei „keinesfalls vorüber”: „Dieser Bursche”, sagt Connors, „hat noch immer die großen Titel in sich. Da sollte sich niemand täuschen.”
Federer kann sich natürlich in seinen späten Tennistagen den Luxus leisten, seine Turnier-Schwerpunkte gezielt zu setzen und sich auch die nötigen Atempausen in diesem rastlosen Geschäft zu gönnen. Frischer, ausgeruhter und tatendurstiger wirkt er deshalb jetzt, da die letzten schweren Spiele zu bestreiten sind, frischer auch als der formsuchende Nadal und der überspielt wirkende Andy Murray. In Paris jedenfalls war Federer beim letzten großen Turnier vor der WM nicht zu stoppen, schon gar nicht von Tsonga im Finale – und damit jenem Mann, der ihm nun auch im ersten WM-Gruppenspiel gegenübersteht.