WM-Held Paul Breitner über seinen Elfmeter-Moment 1974: "Wenn ich auf dem Sterbebett letzten Schnauferer mache"

AZ: Herr Breitner, wie kam es dazu, dass Sie der Elfmeterschütze im WM-Endspiel von München 1974 gegen die Niederlande wurden?
PAUL BREITNER: Wir hatten um 11 Uhr im Hotel die Teamsitzung, also fünf Stunden vor dem Anpfiff. Bundestrainer Helmut Schön fragte uns: Was passiert heute, wenn wir einen Elfmeter bekommen? Der Gerd (Müller, d. Red.) sagte: "Nein, Herr Schön!" Der Franz (Beckenbauer, d. Red.) sagte: "Nein, Herr Schön, das habe ich Ihnen doch schon gesagt!" Der Hintergrund war: Gerd hatte in der Saison zuvor drei Elfmeter versemmelt, Franz zwei. Was machte Schön? Er sagte: "Dann müssen wir uns eben im Olympiastadion noch einmal darüber unterhalten."
Dabei hatte doch Uli Hoeneß im Zwischenrundenspiel, dem 4:2 gegen Schweden in Düsseldorf, einen Elfmeter verwandelt. Kurz vor dem Ende der Partie zum erlösenden 4:2.
Richtig, damals haben wir uns gedacht: Gott sei Dank, jetzt haben wir einen sicheren Schützen! Aber die Vorgeschichte geht noch weiter. Im nächsten Spiel gegen die Polen, es steht noch 0:0, verschießt er Anfang der zweiten Halbzeit einen Elfmeter. Die Suche musste von vorne losgehen.
Breitner über Elfmeter-Frage vor dem Finale: "Freiwillig hat sich keiner gemeldet"
Was haben Sie sich als 22 Jahre alter Spieler damals gedacht?
Die Frage, wer einen Elfmeter schießen würde, war das übergeordnete Thema rund um das Finale. Denn freiwillig hat sich keiner gemeldet. Ich habe mir gedacht: Das kann doch nicht sein! Wollen die keinen Elfmeter! Ich will am liebsten in jedem Spiel zehn Elfer haben! Ich will Weltmeister werden! Als der Schiedsrichter im Kabinengang gepfiffen hat und wir rausgehen sollten Richtung Spielfeld, rief Schön noch einmal verzweifelt: Franz, was ist jetzt? Gerd?! Keine Antwort. Dann sagte Schön allen Ernstes: Also Franz, sollte es einen Elfmeter geben, dann nehmen wir Kontakt auf, okay? Ja, was wollten die denn? Bei einem Elfmeterpfiff sagen: Lieber Schiri, wir brauchen jetzt fünf Minuten, müssen erst eine Arbeitsgemeinschaft einberufen und dann diskutieren! Spätestens da muss sich bei mir irgendeine Hirnwindung gedreht haben, davon hatte ich aber nichts mitbekommen.
Den Elfmeter gab es nach dem Foul von Hoeneß dann nach wenigen Sekunden auf der anderen Seite. Johan Neeskens verwandelte zur Führung der Niederländer.
Ein Schock, wir waren fertig! Ich wollte nur noch im Boden versinken.
Die Holländer, schon vor dem Spiel sehr selbstbewusst, wähnten sich auf der Siegerstraße.
Bereits als wir aus dem Bus in die Kabine kamen, haben die gesungen und gegrölt in einer unglaublichen Lautstärke. Wie eine Gruppe holländischer Touristen auf dem Oktoberfest. Die wollten uns aufziehen. Wir sind mit einer unglaublichen Wut über dieses Benehmen aufs Spielfeld - und dann stand es sofort 0:1. Danach wollten sie uns veräppeln, fußballerisch vorführen. Es hätte auch so enden können wie im WM-Halbfinale 2014 als unsere Nationalelf die gastgebenden Brasilianer mit 7:1 überrollt hat.
Breitner über seinen Final-Elfer: "Ich war zwei Minuten völlig aus der Welt"
Und als Bernd Hölzenbein gefoult wurde, haben Sie sich in der 25. Minute den Ball geschnappt. Zur Überraschung aller.
Ich war dem Ball am nächsten, bin in aller Ruhe hin. Einer meiner Gedanken war: So, und wem gibst jetzt den Ball?
Sie haben ihn nicht hergegeben.
Wolfgang Overath hat mich noch gefragt: Paul, schießt du jetzt? Ich muss ihm - das hat er mir später erzählt, ich kann mich daran nicht erinnern - auf Bayerisch geantwortet haben: "Ja, das siehst du doch! Ich hau' den jetzt rein und jetzt schleich di!"
Gesagt, getan. Ganz cool reingeschoben.
Wie in Trance. Ich war zwei Minuten völlig aus der Welt.
Es war der Schuss Ihres Lebens, der WM-Titel, den Gerd Müller mit dem Treffer zum 2:1 kurz vor der Pause perfekt machte, Ihr größter Erfolg. Und der Elfmeter Fluch und Segen zugleich...
Richtig. Der gehört zu meinem Leben. Wenn ich auf dem Sterbebett meinen letzten Schnauferer mache, kommt sicher einer zur Türe herein und meint: "Paul, bevor du abkratzt, erzähl' bitte noch mal die Geschichte vom Elfmeter!"
Breitner über Real-Wechsel: "Nach den ersten Gesprächen kam Günter Netzer ins Spiel"
Stand Ihr anschließender Wechsel zu Real Madrid zum Zeitpunkt des Finales schon fest?
Nein, erst danach. Nach den ersten Gesprächen mit den Verantwortlichen von Real kam Günter Netzer ins Spiel, der ja bereits ein Jahr zuvor nach Madrid gegangen war. Er hat dann bei weiteren Gesprächen, als es nur noch um Details ging und im Grunde schon alles klar war, mir geholfen und für mich übersetzt.
1982 haben Sie mit der Nationalelf nach Ihrem Comeback unter Bundestrainer Jupp Derwall noch einmal ein WM-Endspiel erreicht, trafen bei der WM in Spanien auf die Italiener. Welche Bedeutung hat dieses Finale im Estadio Santiago Bernabéu für Sie?
Keinen besonders hohen. Wenn du ein Finale verlierst, hat das keinen hohen Stellenwert. Außerdem steht das Halbfinale gegen Frankreich, in dem wir in der Verlängerung von 1:3 auf 3:3 zurückgekommen sind und dann im Elfmeterschießen gewonnen haben, eine Stufe drüber.