Wie Thomas Tuchel den FC Bayern jetzt entfesselt haben könnte: "Vielleicht hat er das dann auch eingesehen"

München - Fesseln abwerfen, Ketten sprengen, sich aus einem engen Korsett lösen, sich ungezwungen entfalten – klingt gut, klingt nach Kreativität, klingt nach Ideenreichtum, klingt nach dem FC Bayern der vergangenen beiden Spiele.
Und klingt nach Thomas Tuchel. "Klarheit bringt Freiheit. Freiheit ist immer gut, sowohl zum Spielen als auch zum Trainieren", sagte der (Noch)-Coach des Rekordmeisters im Februar – nachdem die bevorstehende Trennung im Sommer beschlossene Sache war.
Dennis Aogo über den Bayern-Coach: "Es zeigt, dass Tuchel sich reflektiert"
Nun kann diese Freiheit ja in vielerlei Hinsicht interpretiert werden, bei Tuchel besonders in Bezug auf seinen Entscheidungsspielraum. Aber eben auch als Einsicht, als Zugeständnis aus freien Stücken, wenn man so will. "Er hat vielleicht zur Mannschaft gesagt: Ihr spielt und ihr macht. Vielleicht hat er das eingesehen", mutmaßte Ex-Bayern-Profi Dietmar Hamann in der Talksendung "Sky 90" und fragte: "Warum vorher nicht?"
Der frühere Nationalspieler Dennis Aogo formulierte es so: "Es zeigt, dass Tuchel sich reflektiert, und er vielleicht auch auf die Spieler gehört hat. Es findet nach wie vor Entwicklung statt, er könnte auch engstirnig sein und sagen: Ich nehme gar keine Rücksicht mehr."
Joshua Kimmich wie von einer Last beim FC Bayern befreit: "Er ist dort eine große Hilfe"
Auch eine Form von Freiheit, die Tuchel aber offenbar als nicht zielführend einstufte. Der Trainer schob vielmehr seine Skepsis beiseite und machte Matthijs de Ligt zum Abwehrchef, eine Rolle, die dem Niederländer auf den Leib geschneidert scheint. Er bedachte Joshua Kimmich mit der Aufgabe des Rechtsverteidigers, die dieser nicht als Degradierung versteht, sondern auslebt, als wäre er von zu viel Last befreit. "Er ist dort eine große Hilfe", sagte Sportvorstand Max Eberl.
Die Kimmich-Rochade wiederum kommt Leon Goretzka neben Aleks Pavlovic oder Konrad Laimer zu Gute in einer Rolle, die ihn ebenfalls weniger Fußball mit der Handbremse spielen lässt.
FC Bayern bei Siegen gegen Rom und Mainz viel näher an ihrer Identität und ihrem Anspruch
De Ligt, Kimmich und Goretzka – drei Profiteure der neuen großen Freiheit. Defensivboss de Ligt organisiert, Schienenexperte Kimmich reüssiert (endlich wieder) und Quasi-Quarterback Goretzka dirigiert. Spieler, die Trainer Tuchel in den zurückliegenden Monaten zuweilen mit der Beißzange angefasst hat.
Die Leverkusener, "zocken einfach, die spielen Fußball", hatte Thomas Müller im Angesicht des desaströsen 0:3 beim aktuellen Titelfavoriten aufgebracht gesagt und die "Verkopftheit" im eigenen Spiel moniert. "Das Avantgardistische wie unter Pep Guardiola und auch Hansi Flick ist jetzt weg", sagte Taktik-Experte und Ex-Profi Thomas Broich im AZ-Interview zu seinen Beobachtungen.
Nun, innovativ waren die Bayern beim 3:0 gegen Lazio Rom und 8:1 gegen Mainz 05 sicher nach wie vor nicht, aber doch viel näher an ihrer Identität und ihrem Anspruch.
Personalsituation beim FC Bayern durch Rückkehr von Serge Gnabry wird besser
Während Hamann den "Konkurrenzkampf" als weiteren förderlichen Faktor anführt, der durch die Rückkehr von Serge Gnabry und die allgemein besser werdende Personalsituation entfacht wird oder schon worden ist, zielt Tormaschine Harry Kane ebenfalls auf Tuchels offensichtliche Stil-Anpassungen.
"Wir hatten zuletzt mehr Freiheiten in der taktischen Ausrichtung", bestätigte Englands Nationalmannschaftskapitän den äußeren Eindruck.
Eilt der FC Bayern nun von Sieg zu Sieg? Didi Hamann und Dennis Aogo warnen
Heißt das, es ist alles gut und die Münchner ziehen in bester wiedererlangter Mia-san-mia-Manier von Spiel zu Spiel und Sieg zu Sieg? "Man muss es mit Vorsicht genießen", meinte Hamann. Auch Aogo sieht noch keinen glorreichen Tuchel-Abschied bevorstehen und warnte: "Es ist einen Tick zu früh, das zu sagen. Was ist passiert? Wer waren die Mannschaften? Das darf man nicht zu hoch hängen. Aber vielleicht kamen die beiden Gegner auch zum richtigen Zeitpunkt und sie können den Rückenwind mitnehmen."
Mitnehmen in das ungleiche Duell am Samstag (15.30 Uhr, Sky und im AZ-Liveticker) beim Tabellenschlusslicht Darmstadt 98 und – noch viel wichtiger – in die Phase nach den bevorstehenden Länderspielen gegen Frankreich (23. März) und die Niederlande (26. März). Darauf folgt sofort der deutsche Klassiker gegen Borussia Dortmund (30, März) und bald auch das Champions-League-Viertelfinale (ab 9. April).
Und es wird klarer, ob gerade die Wende der Saison zum Guten angelaufen ist, die große, neue Freiheit auch große, neue Kräfte freisetzt oder es doch nur ein vorübergehendes Hochgefühl war. Also abwarten, bis die die hochkarätigen Gegner kommen – dann gibt Antworten mit mehr Substanz.