Welche Entscheidungen von Brazzo und dem Titan heute noch zum FC-Bayern-Desaster beitragen

Nach der dritten Pleite in Folge bietet der FC Bayern ein Bild des Grauens. Nichts geht mehr, nichts stimmt mehr – auf so vielen Ebenen: Trainer, Kader, Mentalität und Hierarchie – eine Analyse der AZ.
von  Patrick Strasser
Ratlos, planlos – und vor allem erfolglos: Aus dem Topfavoriten auf die Meisterschaft ist beim FC Bayern ein Team mit viel zu vielen internen Baustellen geworden.
Ratlos, planlos – und vor allem erfolglos: Aus dem Topfavoriten auf die Meisterschaft ist beim FC Bayern ein Team mit viel zu vielen internen Baustellen geworden. © imago

München - Für Bayerns sich abzeichnende, erste titellose Saison seit 2011/12 muss man nicht viel Rechenkunst besitzen, für das Gegenteil viel Fantasie. Laut dem "Euro Club Index" beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass der FC Bayern trotz der nun acht Punkte Rückstand auf den enteilten Tabellenführer Bayer Leverkusen doch noch die Meisterschaft gewinnt, niedliche 14,7 Prozent.

Der Titel sei, so Trainer Thomas Tuchel nach dem 2:3 in Bochum bei DAZN, "jetzt gerade nicht so realistisch", wichtiger dafür, "dass wir in die Spur finden". Diese Bayern? Es scheint, als läge die Wahrscheinlichkeit dafür weit unter zehn Prozent. Tuchel zieht am Strohhalm der Hoffnung, sagt: "Wir haben ja letzte Saison gesehen: So lange es rechnerisch nicht durch ist, ist es nicht durch."

Thomas Müller, der FC-Bayern-Seismograph ist sprachlos

Komplett durch wirken diese Bayern – auf allen Ebenen. "Eine Woche zum Vergessen. Es ist schwierig, die richtigen Worte für unsere Gefühle zu finden", schrieb Thomas Müller bei Instagram. Wenn dem Teamsprecher, dem emotionalen Seismographen der Mannschaft, die Worte fehlen, ist die Farbe der Alarmstufe dunkelrot.

Leon Goretzka wähnt sich "in einem Horrorfilm, der nicht enden will. Es läuft alles gegen uns." Falscher Film, alles nur ein böser Traum? "Das ist nicht der FC Bayern", sprach Kapitän Manuel Neuer. Nach zwei Niederlagen, dem 0:3 in Leverkusen und dem 0:1 bei Lazio Rom, glaubte die Branche, ja nahezu alle Fans, dass das Imperium zurückschlagen werde. Tatsächlich aber ging man aufeinander los.

Zoff zwischen Joshua Kimmich und Zsolt Löw - die Nerven liegen blank beim FC Bayern

Als die bedröppelte Mannschaft vom Gang zur Kurve mit hängenden Köpfen zurücktrottete Richtung Kabine, lieferten sich Joshua Kimmich und Co-Trainer Zsolt Löw ein hitziges Wortgefecht. Auf dem Weg in die Katakomben, der – welch' Sinnbild! – Stufe für Stufe nach unten führt, rief Löw wild schimpfend Kimmich, nach einer guten Stunde ausgewechselt, etwas nach. Kapitän Manuel Neuer ging als Schlichter dazwischen, zog an der Jacke des Co-Trainers, um die Streithähne auseinanderzubringen. Ein Beleg wie sehr die Nerven blank liegen beim Branchenprimus, der seine nationale Vormachtstellung nach elf Meisterschaften in Serie eingebüßt hat.

Die Verantwortlichen spielten den Vorfall herunter – diplomatische Schadensbegrenzung. "Wir sind in einer Fußballkabine", meinte Tuchel, "ein ziemlich normaler Vorfall, es blieb im Rahmen." Das Bayern-Schiff, zu Beginn noch mit dem Triple als Motiv im Zielfernrohr, läuft auf Grund. Rette sich, wer kann! Die stets auf Harmonie erpichte Familie gibt ein verheerendes Bild ab. Mia san nur noch Torso. Ein Verein als Trümmerhaufen.

Der Kader wurde von Oliver Kahn und Hasan Salihamidzic falsch zusammengestellt

Die Mannschaft ist falsch zusammengestellt, ein Versäumnis und zugleich Vermächtnis der Ära Oliver Kahn und Hasan Salihamidzic. Der Kader hat offensichtlich nicht ausreichend Qualität, es besteht teamintern keine Hierarchie mehr. Führungsspieler wie Kapitän Neuer und Vize-Kapitän Müller sind im Herbst ihrer Karriere zu sehr damit beschäftigt, ihr Level halten zu können. Kimmich und Goretzka, die auserkorene neue Generation der Leadertypen, werden diesem Anspruch nicht gerecht.

Zur toxischen Gemengelage kommt, dass die zwei größten Leistungsträger der Hinrunde, Torjäger Harry Kane und Top-Vorlagengeber Leroy Sané nun auch schwächeln. Wurden sie vom sinkenden Niveau hinabgezogen? Die Münchner haben jegliche Dominanz, die einstige Souveränität verloren. Und der Chefcoach, der die Kabine zusammenhalten und sportlich verantworten sollte, wirkt beinahe wie ein Ausstehender, machtlos bis ohnmächtig. Meist ratlos.

Thomas Tuchel: "Wir schlingern so ein bisschen"

"Keine einfache Situation", untertrieb Tuchel, der mangels einer ad hoc zur Verfügung stehenden Alternative, auf die sich alle Bosse verständigen können, vorerst weitermachen darf. Vorstandsvorsitzender Jan-Christian Dreesen sagte nach der Niederlage: "Es geht mir beschissen. Ich halte nichts von monströsen Trainer-Bekundungsaussagen. Das ist kein Thema, mit dem wir uns aktuell beschäftigen." Der Trainer mit ungewissem Ablaufdatum gestand selbst: "Wir schlingern so ein bisschen. Es wird eine Kunst, im nächsten Spiel wieder positiv zu sein." 

Der Samstag und Gegner RB Leipzig, gegen den Tuchel in drei Partien mit den Bayern seit Mai (1:3, 0:3, 2:2) nicht gewinnen konnte, werden es zeigen.

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