Interview

Wachablösung im FC-Bayern-Tor? "Manuel Neuer hat nicht mehr diese absolute Ausnahmestellung"

Ex-DFB-Torhüter René Adler spricht im exklusiven AZ-Interview über die Chancen bei der Heim-EM, Manuel Neuers starke Rückkehr und Alex Nübel: "Er kann als Nummer eins beim FC Bayern spielen."
von  Maximilian Koch
Alexander Nübel (l.) soll Manuel Neuer beim FC Bayern beerben.
Alexander Nübel (l.) soll Manuel Neuer beim FC Bayern beerben. © IMAGO / ActionPictures

Anmerkung der Redaktion: Das Interview wurde vor dem Halbfinal-Rückspiel des FC Bayern bei Real Madrid geführt, das der Rekordmeister mit 1:2 verlor.

AZ: Herr Adler, es sind nur noch gut sechs Wochen bis zum Start der Heim-EM, die Sie als Experte des ZDF begleiten werden. Kribbelt es bei Ihnen schon?
RENÉ ADLER: Ich habe richtig Bock darauf, nur annähernd wieder so ein Turnier zu erleben wie die WM 2006. Ich weiß noch genau, wie gut die Stimmung damals war. Es hängt natürlich in erster Linie von der Leistung der deutschen Mannschaft ab, damit der Funke auf die Fans überspringt. Nimmt die Mannschaft schon mit einem Sieg im Eröffnungsspiel die ganze Nation mit? Haben wir wieder Fanfeste? Fährt wieder jeder mit einer Fahne am Auto herum? Gibt es Autokorsos nach jedem Sieg? Ich hoffe vor allem, dass es friedlich bleibt. Das kann man in der heutigen Zeit ja leider nicht mehr voraussetzen. Das ist meine größte Hoffnung. Und gleich danach kommt, dass wir ein erfolgreiches Turnier spielen mit der deutschen Mannschaft.

Ex-Nationaltorhüter René Adler.
Ex-Nationaltorhüter René Adler. © Roland Weihrauch/dpa

Wie würden Sie ein erfolgreiches Turnier definieren für das Team von Bundestrainer Julian Nagelsmann?
Wenn man allein die Einzelspieler sieht, kann man Deutschland auf jeden Fall zu den Favoriten zählen. Wir haben internationale Topspieler wie Toni Kroos und Antonio Rüdiger von Real Madrid, zahlreiche Halbfinalisten in der Champions League beim FC Bayern und Borussia Dortmund. Das sind Spieler, um die uns andere Nationen beneiden. Das ist Fakt – und aus dieser Perspektive müssten wir sogar Topfavorit sein. Nehmen wir allerdings die Vergangenheit zugrunde mit den Enttäuschungen bei der WM 2018, der EM 2021 und der WM 2022, sind wir sehr weit weg von der Rolle eines Topfavoriten. Ich denke, die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte. Der Erfolg bei einem Turnier hängt von vielen Faktoren ab: Wie starte ich ins Turnier? Wie ist das Momentum? Auf welcher Welle bin ich? Bleibt die Mannschaft von Verletzungen verschont? Und wer sind die Gegner in der K.o.-Phase? Wenn man den absoluten Topgegner vielleicht schon im Viertelfinale bekommt, kann man da unglücklich ausscheiden - trotz guter Leistung. Das wäre besser zu erklären, als gegen einen schwächeren Gegner nach desaströser Leistung auszuscheiden. Für mich wäre es ein Erfolg, unter die Top 3 zu kommen. So ähnlich wie bei der WM 2010, als die junge deutsche Mannschaft die Fußballwelt mit ihrer Spielweise begeistert hat. Das war ein Erfolg.

René Adler: "Nagelsmann hatte den Mut, harte Entscheidungen zu treffen – auch gegen Widerstände"

Wie wichtig für die Euphorie im Land waren zuletzt die beiden Siege in den Testspielen gegen Frankreich und die Niederlande?
Die Siege waren sehr, sehr wichtig. Ich finde, die gesamte Entwicklung des Teams ist vielversprechend. Julian Nagelsmann hatte den Mut, harte Entscheidungen zu treffen – auch gegen Widerstände. Das war mit einem Risiko verbunden, doch er wurde belohnt. Die Fußballfans in Deutschland können sich mit dieser Mannschaft identifizieren und mit diesen Spielern, die zuletzt eingeladen wurden. Wenn die Leistung stimmt und zusätzlich das Ergebnis, dann ist es das ein Cocktail, der die Stimmung wieder ins Positive dreht. Ich bin jetzt aber kein Freund davon, zu euphorisch zu sein. Man sollte immer noch die nötige Demut haben und sagen: Wir haben viel Arbeit vor uns. Es war zwar deutlich besser, wir haben die richtigen Schlüsse gezogen. Aber: Es ist kein Selbstläufer. Davor warne ich: Zu denken, es läuft jetzt einfach so weiter. Es wird immer wieder Widerstände geben, die die Mannschaft überwinden muss. Und dafür braucht sie die Fans.

War bei den vergangenen Turnier eines der Hauptprobleme, dass sich die deutsche Mannschaft nicht zu einer verschworenen Einheit entwickelt hat?
Du kannst die letzten Meter nicht gehen, wenn du keine Einheit bist. Beim WM-Sieg 2014 gab es eine klare Achse in der Mannschaft, einen Kern mit Wortführern. Das ist superwichtig. Diese Achse muss mit Spielern, die in Topform sind, funktionieren. Bei großen Erfolgen hatten wir diese Achse immer. Es darf auch kein Platz für persönliche Eitelkeiten sein. Und da spielt es eine Rolle, wie die Mannschaft zusammengestellt ist: Sind zu viele Individualisten dabei, die ihr eigenes Wohl über das der Mannschaft stellen? Das hat Nagelsmann aus meiner Sicht sehr gut erkannt. Er gibt den Spielern bestimmte Rollenprofile – und die gilt es dann zu akzeptieren. Da fallen dann manche guten Spieler durchs Raster, aber es hilft dem Erfolg der Mannschaft.

Die Bayern-Profis Leon Goretzka und Serge Gnabry wurden zuletzt nicht von Nagelsmann nominiert. Sehen Sie die Chance für beide, noch in den EM-Kader zu rücken?
Die Tür sollte bis zuletzt offen sein, das ist ganz wichtig. Ich finde schon, dass allen voran Leon Goretzka eine Facette reinbringt, die jeder Mannschaft helfen kann. Er ist physisch stark, ein Box-to-box-Spieler, der torgefährlich ist und diese schwierige Situation angenommen hat. Vielleicht war auch genau das gewollt von Nagelsmann: Dass Goretzka gekitzelt wurde. Goretzka hat super reagiert – das könnte bei einem Turnier wichtig sein. Zumal Goretzka keiner ist, der Stunk macht. Er hat ein offenes, kommunikatives Verhältnis zu Nagelsmann. Serge Gnabry war häufig verletzt in dieser Saison. Da bin ich froh, nicht in Nagelsmanns Haut zu stecken – denn wir haben ein großes Portfolio an absoluten Topspielern.

Adler über Comeback von Manuel Neuer: "Das nötigt mir allerhöchsten Respekt ab"

Im Tor hat sich Nagelsmann auf Manuel Neuer festgelegt. Die nachvollziehbare und richtige Wahl?
Nachvollziehbar auf jeden Fall. Ich habe mich vor ein paar Monaten für Marc-André ter Stegen als Nummer eins ausgesprochen, aber das war in einer Phase, als keiner wusste, ob Manuel Neuer überhaupt zurückkommt und wie er zurückkommt. Daher bricht mir jetzt absolut kein Zacken aus der Krone, um zu sagen: Mal wieder Chapeau, Manu! Es hätte wenige Torhüter gegeben, die in einer solchen Form und Art und Weise zurückkehren. Das nötigt mir allerhöchsten Respekt ab. Aus ter Stegens Sicht kam seine Verletzung mit der Operation am Rücken natürlich zur ungünstigsten Zeit. Neuer spielt, als wäre er nie weggewesen, als wäre er in einen Jungbrunnen gefallen – und ter Stegen muss sich operieren lassen. Wenn man als Bundestrainer ohnehin schon eine Tendenz zu Neuer hatte, war das vielleicht das Zünglein an der Waage, um zu sagen: Ich entscheide mich für den Torhüter, der super viel Erfahrung hat, der starke Leistungen bringt, der auch für die Gegner schon mal eine Ansage ist. Für ter Stegen ist es auf jeden Fall bitter – er wäre bei jeder anderen Nation unangefochtener Stammtorhüter. Wohl dem, der zwei Weltklasse-Keeper hat. Es kann ja auch immer eine Verletzung passieren.

Ex-Nationalkeeper René Adler: "Diesen einen Über-Torhüter gibt es aktuell nicht"

Ist Neuer aus Ihrer Sicht weiter der weltbeste Torhüter?
Diese absolute Ausnahmestellung hat Neuer nicht mehr, das war rund um 2014 noch anders. Diesen einen Über-Torhüter gibt es aktuell nicht. Unter den drei besten Keepern der Welt sind für mich Neuer, der das Torwartspiel auf eine neue Ebene gehoben und es definiert hat, dann Jan Oblak von Atlético Madrid und auf jeden Fall ter Stegen. André Onana hat bei Inter Mailand super Leistungen gebracht, er hat bei Manchester United eine schwierige Saison – wie viele in ihrer ersten Premier League Spielzeit. Und Thibaut Courtois von Real Madrid hat sich einen Kreuzbandriss zugezogen.

Alexander Nübel hat seinen Vertrag beim FC Bayern verlängert, er soll Neuer spätestens 2026 beerben. Trauen Sie ihm das zu?
Alex Nübels Weg ist nicht so reibungslos verlaufen, wie er sich das erhofft hat. Das war bei Manuel Neuer damals anders, als er von Schalke zu Bayern gekommen ist und mehr als eine Dekade geprägt hat. Aber das muss für Nübel ja nichts Schlechtes sein. Er musste diverse Widerstände überwinden, sich durchsetzen, er saß auf der Bank. Ich glaube, dass dich das prägt – allen voran als Mensch. Nübel ist als Torhüter und Persönlichkeit unheimlich gereift. Deshalb glaube ich sofort, dass er bei Bayern als Nummer eins spielen kann. Nübel spielt kommende Saison Champions League mit dem VfB Stuttgart, da kann er sich an die Topspiele gewöhnen. Wenn Nübel beim FC Bayern als Stammtorhüter spielt, ist er dann auch automatisch ein Kandidat für die Nationalmannschaft.

Kann der FC Bayern Meister Bayer Leverkusen, Ihren Ex-Klub, in der kommenden Saison abfangen?
Es freut mich sehr, dass Leverkusen als Mannschaft zusammenbleibt, dass auch Xabi Alonso seine Arbeit fortsetzt. Daher glaube ich, dass Leverkusen nächste Saison wieder eine gute Chance auf die Meisterschaft hat. Der FC Bayern muss erstmal wieder dieses Konstrukt bauen mit dem Selbstverständnis: Wir sind der FC Bayern. Dieses "Mia san mia" muss erstmal wieder gelebt werden, das Monster FC Bayern mit diesem Erfolgshunger muss erst wieder gefüttert werden.

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