Unvergessen! Eine Hommage der AZ an Gerd Müller

Am Dienstag wird Fußball-Legende Gerd Müller 75. Es ist ein trauriges Jubiläum, denn der "Bomber der Nation" leidet an Alzheimer im vorgerückten Stadium und lebt im Pflegeheim. Eine Hommage der AZ.
von  Patrick Strasser
Sein wichtigstes Tor: Gerd Müller schießt Deutschland gegen die Niederlande 1974 zum WM-Titel.
Sein wichtigstes Tor: Gerd Müller schießt Deutschland gegen die Niederlande 1974 zum WM-Titel. © dpa

München - Er hat an ihn gedacht. Und das an seinem eigenen Ehrentag. Als Franz Beckenbauer, dem Kaiser, der Lichtgestalt des deutschen Fußballs (Fußnote: zumindest als Spieler und Trainer) rund um den 11. September zu seinem 75. Geburtstag gehuldigt wurde, rückte der Jubilar einen anderen in den Vordergrund: Gerd Müller, den Bomber der Nation. Beckenbauer sprach: "Ohne ihn wären wir alle und der FC Bayern niemals so groß geworden." Punkt.

Gerd Müller: Ehrentag in völliger Stille

Damit würdigte er einen Freund und Wegbegleiter. Einen, dem er so vieles zu verdanken hat. Einen, der von all dem leider nichts mehr weiß.

Gerd Müller leidet seit zwölf Jahren an Demenz, hat Alzheimer im vorgerückten Stadium. Er verliert sein Gedächtnis, das Vergessen des eigenen Lebens und der Welt um ihn herum ist nicht aufzuhalten. Sein Körper kämpft mit der schweren Erkrankung, will noch nicht aufgeben. Und so wird der legendärste Stürmer dieses Landes am Dienstag 75 Jahre alt.

In völliger Stille. Er wird an seinem Krankenbett lediglich eine Stimme vernehmen: die seiner Frau Uschi. Wie jeden Tag. Wie in all den Jahren. Seit Dezember 2014 lebt ihr Gerd in einem Pflegeheim außerhalb Münchens, seitdem besucht sie ihn – früher tagtäglich. Und heute so oft, wie es in diesen Corona-Zeiten eben möglich ist.

"Auch wenn er in seinen Möglichkeiten eingeschränkt ist, erreiche ich ihn noch. Er freut sich, wenn ich komme", erzählte Uschi Müller. Das ist drei Jahre her.

Seit 2014 ist er mit seiner Alzheimer-Erkrankung im Altersheim. Frau Uschi umsorgt ihn liebevoll.
Seit 2014 ist er mit seiner Alzheimer-Erkrankung im Altersheim. Frau Uschi umsorgt ihn liebevoll. © imago images/Fred Joch

Sie möchte nicht allzu viel preisgeben über den Zustand ihres Mannes: "Es macht Freude, mit ihm die Zeit zu verbringen. Er ist aber auch nicht traurig, wenn ich wieder gehe." Seit 1967 sind die Müllers verheiratet, die Goldene Hochzeit verbrachte man im Pflegeheim. Sie erkennt er noch.

Der "Bomber der Nation": Eine Karriere voller Rekorde

Des Bombers Zahlenwerk in aller Kürze: Von 1964 bis 1979 erzielte er in 602 Pflichtspielen 555 Tore für Bayern – mit allen erdenklichen Körperteilen, aus allen erdenklichen Lagen. Er holte 13 Titel mit den Münchnern, gewann von 1974 bis '76 drei Mal hintereinander den Europapokal der Landesmeister. Für die deutsche Nationalmannschaft traf er 68 Mal (und das in nur 62 Spielen), wurde 1972 Europa- und zwei Jahre darauf Weltmeister.

Der Siegtreffer im WM-Finale 1974 von München gegen die Niederlande war sein wichtigster. Seine 365 Bundesliga-Tore sind wohl uneinholbar. Oder doch nicht? Bayerns Torjäger Robert Lewandowski steht bei 246 Treffern. Man möchte ihm zurufen: ein Tor, bitte nur ein Törchen weniger als der Bomber!

Europacup-Triumph 1975: Müller mit Roth auf dem Rathausbalkon.
Europacup-Triumph 1975: Müller mit Roth auf dem Rathausbalkon. © imago images/Fred Joch

2014 machte der FC Bayern Müllers Zustand öffentlich

Gerd Müller bekommt das nicht mit. Der Schleier auf der Erinnerung seines Lebens hat sich in den vergangenen Jahren weiter verdunkelt. Vor wenigen Jahren noch konnte er gute Freunde erkennen, wenn auch oft nur auf den zweiten Blick.

Mit seinem Franz, mit dem Uli, mit dem Kalle, mit Paul Breitner oder Jupp Heynckes, allesamt Mitspieler im Bayern- oder DFB-Trikot, ging er im Park des Pflegeheims spazieren, man unterhielt sich, so gut es ging. So nah und doch so fern. So schön und so traurig zugleich. "Wir begleiten ihn auf seinem Weg", erklärte damals Rummenigge, "das sind wir ihm schuldig."

Dieser Weg, die Anbahnung der Krankheit, war kein leichter. Im Oktober 2014 hatte der FC Bayern Müllers Zustand per Pressemitteilung öffentlich gemacht – im Einverständnis mit seiner Ehefrau und mit Tochter Nicole. Über viele Jahre hatte man an der Säbener Straße und in Müllers Wohnort München-Solln mit dem unter Journalisten offenen Geheimnis gelebt.

Sämtliche Reporter hielten sich an die Vereinbarung, die Erkrankung nicht zu thematisieren. Die Bayern-Familie baute einen künstlichen Kokon um Müller herum auf. "Unser Plan lief so perfekt ab, dass Müller das Gefühl hatte, er stünde noch mitten im Leben", erinnert sich Bayerns Mediendirektor Markus Hörwick.

Bis Mitte 2014 arbeitete Gerd Müller als Assistent in der zweiten Mannschaft.
Bis Mitte 2014 arbeitete Gerd Müller als Assistent in der zweiten Mannschaft. © picture alliance/Andreas Gebert/dpa/Archivbild

Man ließ dem Bomber seine behütete Umgebung, inmitten seiner Fußballfamilie. "Der Verein ist alles für mich", hatte er oft betont. Die Prämisse: Eine heile Welt am Anfang einer unheilbaren Krankheit schaffen.

Er kam regelmäßig zum Trainingsgelände, gebracht von einem Chauffeur. Er ging in die Sauna, ließ sich massieren, flachste ein wenig mit den Jung-Profis – und das alles, obwohl er längst nicht mehr den Job als Co-Trainer der zweiten Mannschaft unter Hermann Gerland oder Mehmet Scholl ausüben konnte. 1992 hatte Müller den A-Schein gemacht und arbeitete bis Mitte 2014 als Assistent, er gab den ehrfürchtig lauschenden Nachwuchsstürmern Tipps, wie man sich im Strafraum verhält.

Und deshalb wurde er mit dem nötigen Respekt behandelt, als sich die Alzheimer-Erkrankung in seinem Gehirn Bahn brach. Zur Einordnung: Rund 1,6 Millionen Menschen leben aktuell in Deutschland mit Demenz, die meisten von ihnen sind von der Alzheimer-Krankheit betroffen. Und weil man derzeit mit Zahlen und Zuwachsraten vertraut ist: Etwa 900 Neuerkrankungen treten durchschnittlich Tag für Tag auf. Macht pro Jahr mehr als 300.000.

Uli Hoeneß erkannte Müllers Einsamkeit

In den 70er und 80er Jahren hatte das Idol einer ganzen Generation eine selbstverschuldete Lebenskrise zu meistern. Müller war abgerutscht: Alkoholiker. Nachdem er im März 1979 im Streit aus München zu den Fort Lauderdale Strikers in die US-Operettenliga geflüchtet war, vereinsamte er und wurde in seinem Restaurant "The Ambry", einem deutsch-angehauchten Steakhaus, sein bester Gast.

Sein Freund Uli Hoeneß war es, der nach der Rückkehr der Müllers die Einsamkeit des ehemaligen Mitspielers erkannte und ihn Anfang der 90er Jahre zum Entzug per Kuraufenthalt zwang. Müller gewann seinen wichtigsten Kampf, er wurde trocken. "Nach vier Wochen bin ich aus der Kur gekommen. In so kurzer Zeit, das war schon eine Leistung", freute sich Müller damals und wusste: "Ohne die Hilfe meiner Freunde hätte ich es wohl nicht geschafft."

Gerd Müller ist bis heute mit 365 Toren der erfolgreichste Bundesliga-Torschütze.
Gerd Müller ist bis heute mit 365 Toren der erfolgreichste Bundesliga-Torschütze. © Karl Schnörrer/dpa

Um ihn auf Kurs zu halten, bekam der gelernte Weber 1992 den Job im Trainerstab der Bayern. Zeit seiner Karriere war Müller - von Tschik Cajkovski, seinem ersten Trainer bei Bayern, liebevoll als "kleines, dickes Müller" bezeichnet - ein stiller Star, schüchtern und bodenständig. All der Trubel und Rummel um seine Person verstörte ihn stets. Der gebürtige Nördlinger, der im Sommer 1964 für die aus heutiger Sicht aberwitzig lächerliche Ablösesumme von 4.400 D-Mark zu Bayern gewechselt war, sagte einmal über das Geheimnis seiner Tore: "I hau' halt immerzu aufs Tor. Wennst denkst, ist's scho' vorbei." Sein Instinkt, seine Antizipationsfähigkeit, seine Reaktionsgeschwindigkeit und seine Besessenheit machten ihm zum größten Mittelstürmer Deutschlands.

Für Paul Breitner ist Müller "das größte Genie, das ich im Fußball jemals erlebt habe. Er wäre heute Messi, Ronaldo und noch ein paar andere zusammen – und würde es niemals sein wollen."

Beckenbauer meinte: "Wenn Neymar 222 Millionen gekostet hat, könnte man beim Gerd noch ein paar Millionen draufpacken." Auch bei den Menschen, die ihn nie haben live spielen sehen, soll er als Strafraum-Genie, als bayerischer Balletttänzer mit Beton-Oberschenkeln in Erinnerung bleiben. Um niemals vergessen zu werden.

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