Tiefer Marktwertfall – Warum Leon Goretzka seine "große Stärke" ab und zu ignorieren sollte

München – Dass trotz Meisterschaft niemand beim FC Bayern so wirklich zufrieden ist mit der vergangenen Saison, ist kein Geheimnis. Dazu wiegt die Art und Weise, mit der man aus beiden Pokalwettbewerben ausschied, zu schwer – und der Zeitpunkt genauso. Darüber hinaus läuft es für den Mannschaftskern des Rekordmeisters auch auf Nationalmannschaftsebene eher bescheiden. Am Samstagabend setzte es ein 0:1 in Warschau, das elfte sieglose Spiel aus den letzten 15 Versuchen.
Es gibt aufkommende Kritik. Am Bundestrainer, vor allem aber auch an der 1995er-Generation. Die Beteiligten warten als Führungsspieler seit dem Triple 2020 noch auf den ganz großen Erfolg . Einer von ihnen ist Leon Goretzka, der sich dessen bewusst ist: "Ich glaube, dass ich von meinem Mindset her noch mehr verstehen muss, dass ich jetzt einer der Spieler bin, auf den viele schauen – anders als vielleicht vor drei, vier Jahren, als andere mehr im Fokus standen", sagte der Mittelfeldspieler im Interview mit "Sport1".
Leon Goretzka will der Ankerpunkt beim FC Bayern in schlechten Phasen sein
Deshalb will Goretzka noch mehr seinem "Anspruch als Führungsspieler gerecht werden. Ich will in der Lage sein, ein Spiel an mich zu reißen, der Mannschaft zu helfen, ein Ankerpunkt sein in schlechten Phasen, in denen wir ein Gegentor bekommen oder in denen es nicht richtig läuft."
Das funktionierte in der vergangenen Saison eher bedingt. Goretzka hatte oft mit Verletzungen und Formschwächen zu kämpfen. Auch sein großes Trademark, die Torgefahr, nahm über die Jahre ab – obwohl Goretzka selbst dafür eine relativ logische Erklärung hat.
"Ich habe in den letzten Monaten zum Beispiel oft gehört: 'Der Goretzka ist gar nicht mehr im Sechzehner, der schießt gar keine Tore mehr oder kreiert zu wenig.' Das war in einer Phase, in der ich ganz andere Aufgaben hatte. Da ging es in erster Linie viel um Restverteidigung, viel um Spielaufbau im ersten Spieldrittel und nicht mehr darum, in Sechzehner-Nähe zu gelangen. Ich wurde an Sachen gemessen, die vorher von mir verlangt wurden, als ich noch mehr auf der Acht war – mit anderen taktischen Vorgaben", so der 51-malige Nationalspieler.
"Darf da nicht schießen" – Wie Mathys Tel Goretzkas "große Stärke" widerlegt
"Eine meiner großen Stärken ist, das umzusetzen, was der Trainer von mir erwartet", erklärte Goretzka seine taktische Flexibilität. Allein dieser Satz fasst seine aktuelle Lage und die vergangene Saison beim FC Bayern gut zusammen, da er wie ein Statement wirkt, bei genauerem Hinsehen allerdings gar nicht so viel verrät.
Zum einen sollte es in der Rolle, in der sich Goretzka sieht, eher eine Selbstverständlichkeit sein, die Basics zu beachten. Zum anderen ist der asphaltierte Weg nicht immer der beste.

Rückblick in den vergangenen November: Der FC Bayern führte 5:1 gegen Werder Bremen, als Mathys Tel den Ball am eigenen Strafraum eroberte und über den gesamten Platz sprintete. Kingsley Coman zu seiner Linken, Dreierpacker Serge Gnabry zu seiner Rechten. Der damals noch 17-Jährige nahm sich allerdings selbst den Abschluss und traf. "Erstmal habe ich mich gefreut, dass er getroffen hat. Aber eigentlich darf er da nicht schießen, sondern muss abspielen auf Kingsley Coman", rüffelte Julian Nagelsmann den Franzosen.
Mit dem Tor hatte Tel das beste Argument dennoch auf seiner Seite und damit gezeigt, dass, bei allen fraglos wertvollen Anweisungen, an erster Stelle noch immer der Erfolg steht. Genau diese Eigenschaften braucht es, um der "Ankerpunkt" zu sein, der Goretzka sein will. Nicht immer nur nach den Regeln zu spielen, sondern, wenn es die Situation erfordert oder hergibt, Verantwortung zu übernehmen und zu improvisieren.
Besonders bei Goretzka würde sich das anbieten. Mit seiner brutalen Physis ist er – wenn er sieht, dass das Spiel gegen seine Mannschaft läuft – prädestiniert dafür, mehrere Gegner auf sich zu ziehen und dadurch Lücken in die Defensive zu reißen. Darüber hinaus verfügt er selbst über eine sehr gute Schuss- und Abschlusstechnik.
Keine Kreativität aus dem defensiven Mittelfeld? Kimmich und Thiago beweisen das Gegenteil
Dass man aus dem defensiven Mittelfeld heraus sehr wohl kreieren kann, beweist Goretzkas Nebenmann Joshua Kimmich in nahezu jedem Spiel. Selbiges galt über Jahre hinweg auch für Thiago, der, obwohl er Kimmich den Rücken freihielt und viel Defensivarbeit verrichtete, dennoch in seinem Spiel äußerst intuitiv und kreativ handelte.
Auch Leon Goretzka selbst widerlegte seine These, auf seine eigene Art und Weise, erst vergangenen Herbst. Am 2. Spieltag der Champions League geriet der FC Bayern gegen einen mutig auftretenden und spielstarken FC Barcelona extrem ins Schwimmen und hatte Glück, dass zur Pause noch keine Tore gefallen waren. Goretzka wurde vor der zweiten Hälfte eingewechselt. Fünf Minuten nach Wiederanpfiff gab er, aus der Distanz, Bayerns zweiten Schuss aufs Tor ab.
Die darauffolgende Ecke köpfte Lucas Hernández zur Führung ein. Bevor sich die Katalanen vom überraschenden Gegentreffer erholen konnten, stellte Leroy Sané auf 2:0. Ab hier war die Partie entschieden. Mit Goretzka und seiner Physis im Mittelfeld hatte Barcelona dem Rekordmeister nichts mehr entgegenzusetzen. Im entscheidenden Moment übernahm er jedoch auch per Torschuss Verantwortung und war damit einer der Matchwinner.
Neue Marktwerte: Ohrfeige für Goretzka, Kimmich fällt weich
Die Gegenwart gestaltet sich für Goretzka allerdings eher bescheiden: Beim 2:1-Sieg in Köln nahm Thomas Tuchel den Nationalspieler bereits nach 14 Minuten wieder vom Platz. Mit dem DFB-Team konnte er keines der drei Spiele gegen die Ukraine (3:3), in Warschau (0:1) sowie gegen Kolumbien (0:2) gewinnen.

Am Donnerstag veröffentlichte das Portal "Transfermarkt" die neuen Marktwerte der Bundesliga-Profis. Mit einem Minus von 20 Millionen Euro gehört Goretzka zu den größten Verlierern. Einzig Teamkollege Sadio Mané bekam den gleichen Betrag abgezogen. Goretzkas Nebenmann Joshua Kimmich fiel etwas weicher, von 80 auf 75 Millionen Euro.
Will er seine Worte in die Tat umsetzen und eine noch größere Bedeutung im Bayern-Spiel einnehmen, geht es für Leon Goretzka auch darum, seine "große Stärke" ab und zu auch zu ignorieren.