Tuchels "Freiheit" kann beim FC Bayern für Kimmich, Goretzka und Müller schlimm werden: "Brauchst nicht mehr abwägen"

München - Thomas Tuchel musste sich erklären. Rasch spürte man am Freitagmittag im fensterlosen Raum an der Säbener Straße, dass es dem Mann auf dem Podium ein Anliegen war, den Journalisten und damit der Öffentlichkeit einiges mittzuteilen – insbesondere, weil er weiß, dass er nach den jüngsten drei Niederlagen nur noch ein Trainer auf Zeit ist und in Bälde nichts mehr zu sagen haben wird im Kosmos FC Bayern.
Vor Ablauf seiner nun um ein Jahr bis zum Saisonende verkürzten Legislaturperiode wurde aus dem Kreuzverhör des leitenden – und zuletzt arg leidenden - Cheftrainers eine Regierungserklärung. Reagierte der 50-Jährige in TV-Interviews oft trotzig und rechthaberisch, antwortete er einerseits wie gewohnt ehrlich und authentisch, aber hier und da auch etwas schnippisch, ja spöttisch. Beispiele dafür: Als es um die Suche nach Gründen für die sportliche Misere und den oder die dafür Schuldigen ging, sagte Tuchel: "Wenn es immer so einfach ist, dann wird ja spätestens im Sommer alles gut."
Seiner Meinung und Analyse nach gibt es "kein eindeutiges Bild", also kein Solo-Motiv für die vorzeitige Scheidung ohne faktische Trennung. Denn: "Wenn alles schlecht gewesen wäre, säße hier jetzt jemand anderes. Es gibt keinen einzelnen Schuldigen. Ich denke nicht, dass ich das einzige Problem bin, stehe aber in der Verantwortung." Er erwähnte die (tatsächliche) "extreme Verletztensituation" (O-Ton) und die zu häufig aufgetretene Diskrepanz zwischen der Qualität im Training und im anschließenden Spiel, wusste jedoch: das ist sein Revier. In der knappen halben Stunde wirkte Tuchel gelöst wie selten. Er lachte und lächelte wie jemand, von dem eine Menge Ballast abgefallen ist. Weitere Kernaussagen des größtenteils entspannten Auftritts vor dem Heimspiel am Samstag gegen RB Leipzig (18.30 Uhr, Sky und im AZ-Liveticker):
Thomas Tuchel über Bayern-Aus: "Wir sind unzufrieden und enttäuscht"
Was führte zu seinem Abschied auf Raten? Tuchel, der mit "wir" stets den gesamten Trainerstab und ganz bewusst die Mannschaft inkludiert, schilderte seine Sicht: "Wir sind unzufrieden und enttäuscht mit der Art und Weise, wie wir spielen und mit der Punktausbeute, den drei Niederlagen zuletzt. Die spielerischen Entwicklungsschritte waren nicht erkennbar und die Ergebnisse nicht so, wie ich es mir vorstelle."
Wie fühlt es sich für ihn an? Diese Umstände seien für ihn "neu". Tuchel betonte, es "sei egal, ob ich die Entscheidung gut finde oder nicht, ob ich darüber glücklich bin oder nicht. Es spielt keine Rolle, ob ich einen Vertrag für fünf Wochen oder fünf Jahre habe, ob der hochdotiert ist oder nicht. Ich werde den Job mit gleicher Energie machen, keinen Millimeter davon abrücken." Eine Selbstverständlichkeit, die nicht immer selbstverständlich ist.
Thomas Tuchel über Joshua Kimmich: "In den letzten Spielen nicht an sein Maximum gekommen"
Was ist der Effekt der Entscheidung? "Es gibt Klarheit, und Klarheit gibt Freiheit", so Tuchel, der das auch auf die Mannschaft bezog. Der Trainer weiter: "Du brauchst bei den Entscheidungen nicht mehr abwägen, was das für eine Langzeitwirkung hat. Man kann das wie ein Pokalspiel coachen." Klarheit, Freiheit, Kompromisslosigkeit. Tuchels Dreiklang erinnerte an: Liberté, Égalité, Fraternité (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit), der Parole der französischen Revolution.
Wie geht die Zusammenarbeit mit Joshua Kimmich weiter? Der wegen seiner Auswechslung gefrustete Vize-Kapitän hatte sich nach dem 2:3 in Bochum eine deftige verbale Auseinandersetzung mit Co-Trainer Zsolt Löw geliefert. Dazu Tuchel kurz und knapp: "Josh ist ein extrem wichtiger Spieler, ein Führungsspieler. In den letzten Spielen ist auch Josh nicht an sein Maximum gekommen. Wir kämpfen für gemeinsame Ziele, das wird sich nicht ändern." Die neue Freiheit für Tuchel kann bedeuten: Spieler wie Kimmich oder Leon Goretzka, vom Verein als Führungsspieler auserkoren, könnten sich häufiger auf der Bank wiederfinden. Auch Thomas Müller.
Thomas Tuchel spielt mit dem FC Bayern noch "um zwei Titel"
Welche Ziele hat Tuchel noch? Der FC Bayern spiele weiter "um zwei Titel", so Tuchel, "in der Meisterschaft um das Maximum. Wir werden nicht aufgeben, bevor es entschieden ist. Auch in der Champions League haben wir noch ein Rückspiel (0:1 im Hinspiel, d.Red.) gegen Lazio Rom." Besonders auf europäischer Bühne kann Tuchel dafür sorgen, dass man seine Amtszeit positiver in Erinnerung behalten wird.
Was ist sein Vermächtnis? "Die Verantwortlichen kennen meine Analyse, die ist auch sehr selbstkritisch", so der Trainer. Diese sei "definitiv keine für die Öffentlichkeit". Mal sehen, was die Bosse und der designierte Sportvorstand Max Eberl (ab 1. März im Amt) aus Tuchels Kaderanalyse machen.