Thiago und Müller, Gewinner und Verlierer der FC-Bayern-Hinrunde

München - Dieser Thiago, beim 3:0 gegen RB Leipzig der beste Thiago der Saison, braucht dringend eine andere Rückennummer. Die „6“ wie ein Abräumer vor der Abwehr? Der Mann ist eine „10“, ein wahrer Spielgestalter, der Taktgeber des Bayern-Spiels. 122 Ballaktionen gegen die Leipziger sprechen eine deutliche Sprache, deren Höchstwert waren 51. Die famose Leistung des Spaniers, im Grunde Bayerns elfter und zwölfter Mann, war der Schlüssel zum klaren Erfolg, zum Statement-Sieg der Bayern so kurz vor Weihnachten.
Und es war der gelungene Schachzug von Trainer Carlo Ancelotti den 25-Jährigen nach vorne zu schieben auf die Position hinter der Spitze, in der sich eigentlich Thomas Müller am wohlsten fühlt. Mit allen Freiheiten, da Arturo Vidal und Xabi Alonso die Zweikampfmonster beziehungsweise Passmaschinen zur Unterstützung bildeten. Und so war Thiago überall zu finden. Sein Laufweg vor seinem Abstauber zum 1:0 kam einer biblischen Vorahnung gleich, die im Fußball mit Antizipation umschrieben wird. Man muss erst einmal in einen Pfosten-Abpraller nach Lewandowskis Schuss reinlaufen als wäre es die einfachste, logischste Sache der Welt. Das ist Thiago.
War Thiago jemals besser?
Seit 2013 ist der Spanier mit brasilianischen Genen dank des Vaters nun beim FC Bayern, hat nach dreieinhalb Jahren allerdings erst 65 Bundesligaspiele gemacht, dabei aber gefühlt 1001 Pässe pro Partie gespielt. Seine tatsächliche Vorrunden-Bilanz: Er machte 22 von 25 Pflichtspielen, erzielte drei Treffer, bereitete vier Tore vor. In der Bundesliga bestritt er 13 Partien über die volle Spielzeit. Nie war er, früher schlimm gebeutelt durch langwierige Verletzungen, so konstant fit wie in dieser Halbserie. War er jemals besser? Ausgerechnet nun – unter Ancelotti?
Thiago steht sinnbildlich für Bayerns wechselhafte Vorrunde. Ohne seinen Förderer und Vertrauten Pep Guardiola, der seinen Musterschüler („Thiago oder nix!“) mit Dienstbeginn vom FC Barcelona nach München geholt hatte, würde Thiago sich im Bayern-Gefüge nicht mehr zurechtfinden, fremdeln, durchhängen, einen Leistungsknick bekommen – befürchtete man. Auch, weil Ancelotti auf Alonso setzt, weil ein fitter Vidal unverzichtbar ist und Joshua Kimmich in die Startelf drängt. Doch Thiago emanzipierte sich, löste sich von seinem zu Manchester City gewechselten Mentor Pep – und zeigte, dass er auf eigenen Zauberfüßen stehen kann.
Er hat sich freigespielt
„Es liegt nicht nur an mir, die ganze Mannschaft fühlt sich immer besser“, sagte er am Mittwochabend, „wir gehen nun mit mehr Selbstvertrauen ins neue Jahr.“ Und im Bewusstsein, dass ihnen ein neuer Zehner geboren ist. Festlegen lassen will sich Thiago nicht. „Ich kann auf jeder Position spielen, auf der Zehn, Acht oder Sechs“, stellte er klar und fügte hinzu: „Aber bitte stellt mich nicht ins Tor, das kann ich nicht.“ Kleiner Scherz des kleinen Mannes, der bei der Frage nach den beiden Trainern den Diplomaten gibt: „Es ist schön, von den besten Trainern der Welt zu lernen. Pep hat seine Philosophie, Carlo hat seine Philosophie. Man entwickelt sich unter den Besten immer weiter.“ Thiago hat sich freigespielt.
Nur ein dicker Fehlpass war am Mittwoch dabei. Ein wunderschöner. Als er im Augenwinkel einen Mitspieler in Rot über die linke Seite heranrauschen sah, spielte Thiago den Ball herüber, ohne den Kopf zu drehen. Die Kugel rollte ins Aus. Der animierte Weihnachtsmann, der auf der digitalen Werbebande im Sauseschritt Schnee wegschaufelte, lief ins Leere. Künstlerpech.
Ein gebrauchtes Halbjahr für Thomas Müller
Thomas Müller amüsierte sich, lachte und scherzte. Kleine (Ex-)Münchner Runde am Mittelkreis mit Philipp Lahm und Ralph Hasenhüttl, dem RB-Coach. Müller, dick eingepackt im Ersatzspieler-Anorak, klatschte mit seinen Mitspielern ab. An seinem Gesicht, an seiner Laune konnte man nicht ablesen, dass er nur Zuschauer gewesen war beim Spiel der Vorrunde, dem Duell Erster gegen Zweiter, für die Bosse wie den Trainer wichtigsten Auseinandersetzung der Hinserie. Müller ante portas. Müller spielt nimmer.
Carlo Ancelotti hatte Thiago auf die Zehnerposition geschoben, über rechts sprintete Arjen Robben, über links dribbelte Douglas Costa. Als Robben wegen kleinerer muskulärer Probleme in der Halbzeit nicht mehr konnte, brachte der italienische Coach Franck Ribéry. Später wechselte er noch Juan Bernat und Joshua Kimmich ein. Koan Müller.
Nur ein Bundesligator in dieser Saison
Passend zum Abschluss dieses für ihn ziemlich verkorksten Halbjahres. In Zahlen: ein Treffer vor zehn Tagen beim 5:0 gegen Wolfsburg, mehr nicht in 13 Bundesliga-Spielen. Wirklich untertourig. 100 Prozent Tore mehr, also zwei, erzielte er in sechs Partien der Champions League, insgesamt vier in 22 Pflichtspielen. Alle 379,5 Minuten ein Tor. Zum Vergleich: In der vergangenen Saison kam er auf 32 Treffer in 49 Partien, machte alle 78 Minuten ein Tor. Wahnsinn, diese Fallhöhe.
Die Systemumstellung von 4-3-3 auf 4-2-3-1, die Müllers Paraderolle hinter der Spitze Lewandowski wieder implementierte, half nur kurzfristig. Effekt verpufft. Und so muss Müller eine Spitze von Vorstandsboss Karl-Heinz Rummenigge über sich ergehen lassen. Dieses 3:0 gegen Leipzig sei „Motivation, dass die Spieler 2017 das ein oder andere vielleicht besser machen müssen. Und das ist hier der Fall.“ Rummenigge nannte Müller im Kontext der Ergänzungsspieler: „Heute brauchst du 16, 17, 18 Spieler, wir haben darüber hinaus eine hohe Anzahl an Qualität, und dann sitzen eben mal zwei, drei draußen, die nicht glücklich sind.“
2016 abhaken, 2017 durchstarten
Doch wann hat eigentlich diese erste richtige Leistungsdelle in der Karriere des Thomas M. begonnen? Einst im Mai. Mit dem verschossenen Elfmeter im Halbfinal-Rückspiel der Champions League gegen Atlético Madrid scheiterte Müller an Keeper Jan Oblak. Weiter 1:0 statt 2:0, schließlich verpasste man mit dem 2:1 (Hinspiel 0:1) das Finale von Mailand. „Seitdem ist bei ihm ein bisschen der Wurm drinnen“, meinte Rummenigge im Herbst, nachdem Müller nun schon seinen sechsten Elfmeter in Serie verschossen hatte. „Ich werde aus dem Spiel heraus sicherlich nicht mehr antreten, 2016 ist nicht das Jahr des Elfmeters“, meinte Müller geknickt nach seinem Fehlschuss Ende Oktober im Pokal gegen Augsburg (trotzdem 3:1).
Das Lachen, die Lockerheit, all das ist noch da, die Leichtigkeit, die Selbstverständlichkeit fehlt bei Müller, das Vertrauen in seine Stärke, die Dinger irgendwie reinzumüllern. „Im Moment klebt mir die Scheiße am Stiefel“, hatte er einmal geschimpft. Müllers Torkrise ist auch eine Folge der Null-Tore-EM in Frankreich inklusive eines verschossenen Elfmeters im Viertelfinale gegen Italien. Die Kollegen und Manuel Neuer retteten ihn. Wenigstens in der WM-Qualifikation zeigte er alte Tugenden, traf bei sechs Einsätzen vier Mal. 2016 ist vorbei. Abhaken, Schnute abputzen. Warum sollte 2017 nicht das Jahr des Müller werden?