Stürmer-Legende Dieter Hoeneß: "Gespannt, wie man Lewandowski stoppen will"
München - AZ-Interview mit Dieter Hoeneß: Der 69-jährige Bruder von Uli Hoeneß stürmte von 1979 bis 1987 für den FC Bayern. Heute ist er als Spielerberater tätig.
AZ: Herr Hoeneß, der FC Bayern trifft am Dienstagabend im Champions-League-Topspiel auf den FC Barcelona um Robert Lewandowski. Wie haben die Münchner den Abgang des Weltfußballers bislang aufgefangen?
DIETER HOENESS: Bayern ist offensiv variabler geworden, das ist für alle sichtbar. Auf der anderen Seite muss man sagen: Lewandowski ist Lewandowski, er hat es geschafft, mehr als 40 Bundesliga-Tore in einer Saison zu schießen. Daher ist es kein Selbstläufer, ihn zu ersetzen. Bis zum Stuttgart-Spiel wurde fantastischer Fußball geboten. Das dritte Unentschieden in Folge in der Liga bereitet nun aber schon ein bisschen Sorgen. Das ist ein Wermutstropfen nach der Anfangseuphorie. Bayern muss insgesamt effizienter vor dem Tor werden.

Wie gefällt Ihnen Bayern-Neuzugang Sadio Mané?
Dafür, dass er erst ein paar Wochen da ist, macht er das sehr gut. Er hat sich schnell ins Team integriert. Mehr war zunächst auch gar nicht zu erwarten. Ich bin überzeugt: Wenn die Automatismen noch mehr greifen, wenn die Abläufe noch reibungsloser sind, wird Mané effektiver sein. Er hatte auch Pech mit einigen knappen Abseitsentscheidungen, sonst hätte er bereits drei, vier Tore mehr. Insgesamt macht es Mané hervorragend – und er wird noch besser werden.
Von welchen Spielern muss im Angriff noch mehr kommen?
Insgesamt spielt die Mannschaft großartige Chancen heraus, doch die müssen auch verwertet werden. Serge Gnabry ist einer, der für 20 Tore in einer Saison gut ist. Da habe ich überhaupt keine Sorge. Leroy Sané zeigt sein überragendes Können immer mehr. Kingsley Coman, der nun leider verletzt ausfällt und mit seinem Tempo und seinen Haken sehr fehlt, kann noch einen Schuss effizienter werden.
Hoeneß: Bayern gehört zu den Mitfavoriten in der Champions League
Noch mal zu Rückkehrer Lewandowski: War Ihnen klar, dass er auch bei Barcelona sofort funktioniert? In sechs Spielen hat er bereits neun Tore erzielt.
Offensichtlich hat sich die Barça-Mannschaft gefunden. Es war klar, dass Lewandowski sofort seine Tore schießt, wenn das Team funktioniert. So schnell konnte er das ja gar nicht verlernt haben. Bayern hat bis zuletzt alles versucht, ihn zu halten. Die Verantwortlichen kennen seine Qualitäten. Die Diskussion drehte sich eher um die Frage: Kann er dieses Level auch die nächsten zwei, drei Jahre noch bringen? Da gab es unterschiedliche Auffassungen. Derzeit ist Lewandowski zweifellos noch in der Lage, jede Topmannschaft in Europa besser zu machen. Er ist ein kompletter Stürmer.

Trauen Sie dem FC Bayern auch ohne Lewandowski den Champions-League-Triumph in dieser Saison zu?
Bayern gehört zu den Mitfavoriten. Man weiß es ja: Es wird wichtig sein, im Frühjahr in Bestform zu sein und personell möglichst aus dem Vollen schöpfen zu können. Dann ist der Champions-League-Titel möglich, das traue ich der Mannschaft zu. Dafür braucht es höchste Konzentration. Man hat in der vergangenen Saison beim Viertelfinal-Aus gegen Villarreal gesehen, dass man auf den Punkt da sein muss. So eine Leistung wie beim 0:1 im Hinspiel kann man sich nicht erlauben.
In England bei Manchester City trifft auch Erling Haaland, wie er will. Wäre er der ideale Lewandowski-Ersatz bei Bayern gewesen?
Ohne Zweifel. Die Bayern haben sich nicht umsonst um Haaland bemüht, weil sie wussten, dass er über Jahre eine ähnliche Rolle hätte spielen können, wie Lewandowski es getan hat. Das Timing war einfach unglücklich. Auf der anderen Seite muss man ganz klar sagen: Es war zu Saisonbeginn ein Genuss, der Bayern-Mannschaft zuzuschauen. Wenn das Team noch effizienter im Torabschluss wird, fehlt auch kein Lewandowski, kein Haaland.
Hoeneß über Bayern-Youngster Tel: "Hut ab!"
Tottenhams Harry Kane wird mit Bayern in Verbindung gebracht. Was halten Sie von Englands Topstürmer?
Er ist einer der besten Stürmer in Europa, keine Frage. Aber da muss man abwarten, wie sich das bei Bayern entwickelt, ob man wirklich einen Neuner braucht. Ich könnte mir vorstellen, dass es Bayern in dieser Saison ohne klassischen Mittelstürmer versucht und dann im Sommer 2023 einen neuen, jungen Topstürmer verpflichtet. Einen, der über Jahre vorne drin spielt. Man sieht ja die Entwicklung: Selbst Pep Guardiola spielt inzwischen bei Manchester City mit einem klassischen Neuner, mit Haaland. Dieser Spielertyp ist wieder gefragt. Ich denke, dass auch beim FC Bayern in den kommenden Jahren wieder die klassische Nummer neun auftauchen wird. Dennoch: Ich bin überzeugt von der aktuellen Mannschaft. Da sind Kombinationen dabei, die man auch mit Lewandowski teilweise nicht gesehen hat.
Vielleicht wird ja der erst 17-jährige Mathys Tel die Dauerlösung für den Bayern-Sturm...
Das ist sicherlich eine Option für die Zukunft. Sein Auftritt im Pokal bei Viktoria Köln war vielversprechend, genauso die Partie gegen Stuttgart, als er sein erstes Bundesliga-Tor erzielt hat. Hut ab!
Zum Abschuss: Wie geht die Partie gegen Barça aus – und wer setzt sich in der Gruppe durch?
Bayern holt den Gruppensieg. Die Mannschaft wird alles mobilisieren, um das Heimspiel gegen Barça zu gewinnen. Ich bin gespannt, wie man Lewandowski stoppen will, mit welcher Konstellation in der Abwehr. Nach vorne hat Bayern alle Optionen und viel Qualität. Es ist schade, dass Coman ausfällt. Aber es gibt sehr, sehr gute Alternativen mit Gnabry, Mané, Sané, Thomas Müller und Jamal Musiala.