Sportliche Achterbahnfahrt und Klopp-Faktor: Warum das Projekt Gravenberch beim FC Bayern nicht aufging

München - Es war der Transfer, der den Bling-Bling-Sommer 2022 einleitete: Für 18,5 Millionen Euro verpflichtete der FC Bayern Ryan Gravenberch von Ajax Amsterdam. Der Niederländer sollte mithelfen, die Lücke, die Thiago bei seinem Abgang 2020 hinterließ, zu schließen.
Nur eine Saison später spielen beide zusammen in Liverpool. Doch während Thiago den deutschen Rekordmeister triumphal mit dem Triple verließ, gestaltete sich Gravenberchs Zeit in München nicht so positiv, wie sie es jetzt in Liverpool ist. Warum? Die AZ klärt auf – anhand ehemaliger Beispiele.
Sogar Joshua Kimmich gab unter Carlo Ancelotti Selbstzweifel zu
Renato Sanches: Wie Gravenberch kam auch der Portugiese als absoluter Shootingstar nach München. Gerade hatte Sanches mit Ausbildungsklub Benfica das Viertelfinale der Champions League erreicht – und scheiterte ausgerechnet am FC Bayern (0:1, 2:2).
Bei der Europameisterschaft gewann der damals 19-Jährige als Stammspieler im Mittelfeld Portugals ersten großen Titel der Verbandsgeschichte. Die Vorschusslorbeeren waren entsprechend groß.

Rechtfertigen konnte er sie beim FC Bayern nur selten. Nicht zuletzt, weil Trainer Carlo Ancelotti lieber auf erfahrenere Spieler setzte.
Sogar heutige Stammspieler, wie Joshua Kimmich oder Kingsley Coman, hatten unter dem Italiener einen schweren Stand. Im "FC Bayern Podcast" gab Kimmich offen Selbstzweifel zu: "Da hast du dann schon Tage, wo du nach Hause fährst und dich fragst: Reicht das überhaupt? Reicht deine Qualität, um bei Bayern München zu spielen?"
Bayerns sportliche Situation machte es unmöglich, die perfekte Rolle für Ryan Gravenberch zu finden
Bei Gravenberch war es nicht der Trainer (oder die Trainer), der/die nicht auf junge Spieler setzen würde(n), es war unter anderem Gravenberchs Profil, das nur bedingt in das System des Rekordmeisters passte: "Er ist für mich ein offensiver Spieler, ein Achter", erklärte Thomas Tuchel: "Die Hauptproblematik für Ryan liegt darin, dass wir diese Position im Moment gar nicht so richtig haben. Und im letzten Jahr, als viel mit Fünferkette oder eben auch mit einer Doppel-Sechs mit drei Offensiven gespielt wurde, gab es die auch nicht."
Die sportliche Situation, mit mehreren Durchhängern und die drohende titellose Saison machten es unmöglich, in Ruhe die passende Position für Gravenberch zu finden.
Daher ging es für den Niederländer nach Liverpool – wie für Renato Sanches 2018 nach Lille. Beide Klubs vereint, dass sie ihn ihren Ligen nicht die Gejagten, sondern die Jäger sind. Es gibt vor ihnen noch den einen großen Platzhirsch, der sämtliche (nationale) Titel für sich beansprucht. Eine Rolle, die mit wesentlich weniger Druck verbunden ist, weshalb sich Sanches bereits herausragend entwickeln konnte und mit Lille 2021 überraschend Meister wurde. Jürgen Klopp hätte, mit Gravenberch im Mittelfeld, sicherlich nichts gegen eine ähnliche Geschichte einzuwenden.
"Ob er die nächsten sechs, sieben Jahre bei uns bleibt...": VfB Stuttgart zufrieden mit Alexander Nübel
Alexander Nübel: Er geht im Moment etwas unter, weil auf der gegenüberliegenden Seite des Feldes die Gegner zuletzt reihenweise "guirassiert" wurden. Aber Alexander Nübel gehört zu den größten Faktoren für Stuttgarts bisherige Super-Saison.
Im Sommer 2020, kurz vor dem Champions-League-Gewinn, verpflichtete der FC Bayern den damals 23-Jährigen in der Hoffnung, er könne ein neuer Neuer werden.

Allerdings wurde schnell klar, dass beide in München nicht koexistieren können. Nübel wurden wohl vertraglich Einsätze zugesichert, von denen vor allem Manuel Neuer nichts wusste und die er vor allem nicht bereit war, abzugeben.
Deshalb wird Nübel – und das betonte Berater Stefan Backs wiederholt – nicht nach München zurückkehren, solange Neuer gesetzt ist. Im Gegenteil: Vonseiten des VfB hofft man sogar, Nübel fest verpflichten zu können: "Ob er die nächsten sechs, sieben Jahre bei uns bleibt, müssen wir schauen", verriet Sportdirektor Fabian Wohlgemuth bei "Sport1" vielsagend.
Konkurrenz für Ryan Gravenberch nicht übermächtig, aber vielschichtiger
Im Fall von Ryan Gravenberch war die Konkurrenz nicht ganz so übermächtig, den vielleicht besten Spieler aller Zeiten auf seiner Position vor sich zu haben – dafür war sie aber wesentlich vielschichtiger. "Es gibt viele Spieler, die schon sehr lange für Bayern spielen, die mehr Wettkampferfahrung haben als Ryan", erklärte Tuchel.
Im defensiven Mittelfeld sind das Kimmich, Leon Goretzka und Konrad Laimer. Eine Reihe weiter vorne, dort wo Tuchel den Niederländer einordnete, hatte er Jamal Musiala und Thomas Müller vor sich.
"Nicht gut genug": Ryan Gravenberch fehlte beim FC Bayern das entscheidende Etwas
Michaël Cuisance: Wie Gravenberch ein Spieler der in äußerstem Maße mit individuellen Fähigkeiten und Selbstvertrauen ausgestattet ist. 2019 kam der Franzose als Top-Talent für das offensive Mittelfeld von Borussia Mönchengladbach. Festsetzen konnte er sich allerdings nie. Dafür ließ er es an der nötigen Resilienz vermissen – bestätigte Ex-Trainer Julian Nagelsmann im September 2021.
Auf die Frage, warum Cuisance und Marc Roca nicht im Kader für das Bundesligaspiel bei Greuther Fürth gewesen sind, antwortete der damalige Bayern-Coach: "Sie haben nicht schlecht trainiert, aber auch nicht gut genug, um andere zu verdrängen."

In etwa so lässt sich auch Gravenberchs Zeit beim FC Bayern zusammenfassen: Nicht schlecht gespielt, aber auch nicht gut genug, um sich langfristig gegen die Konkurrenz zu behaupten. Beispiel: Vor dem Bundesligaspiel gegen Eintracht Frankfurt Ende Januar stellte Nagelsmann Gravenberch einen Startelf-Platz in Aussicht. Den bekam letztendlich Thomas Müller. Gravenberch performte gut. Aber es fehlte das entscheidende Etwas, um sich absolut unverzichtbar zu machen.
In Liverpool ist die Situation nun ganz anders: "Sie wollten mich langsam aufbauen, aber ich würde meine Chancen bekommen. Das war das Wichtigste, was ich wollte", sagte Gravenberch jetzt dem niederländischen TV-Sender "Viaplay" über seinen Wechsel zu den Reds. "Ich habe die Spielminuten bekommen, mit denen ich gerechnet hatte."
Auf die Frage, ob Klopp seine Versprechen besser gehalten habe als die Bayern-Bosse antwortete der Niederländer: "Tatsächlich ja."
Menschenversteher als Trainer: Welche Rolle spielt Jürgen Klopp für Gravenberchs Höhenflug?
Woo-Yeong Jeong: Der erste Südkoreaner des FC Bayern, vor Kim Min-jae zeigte ebenfalls ordentliche Ansätze. Allerdings konnte auch er sich aufgrund der (zu) großen Konkurrenz nicht behaupten. Deshalb zog es ihn zum SC Freiburg. Christian Streich, der als Menschenversteher gilt, formte aus Jeong einen soliden Bundesligaspieler. Inzwischen ist er in Stuttgart bei seinem ehemaligen Förderer aus Bayern-Tagen: Sebastian Hoeneß.

Mit Klopp hat Gravenberch in Liverpool einen ähnlichen Trainertyp, wie ihn Jeong in Freiburg hatte und der mit seiner außergewöhnlichen menschlichen Kompetenz jederzeit das Beste aus jedem Spieler holen kann.
Ende Oktober gewann Liverpool 5:1 in der Europa League gegen Toulouse. Gravenberch erzielte seinen ersten Treffer in diesem Wettbewerb – und bekam im Anschluss Lob vom Boss: "Unglaublich" sei der erste Kontakt des Niederländers, schwärmte Klopp, "sein Antritt mit dem Ball, wie stark er in engen Räumen ist" und betonte: "Ich freue mich so für ihn, dass er wieder Spaß am Fußball hat, das sieht man."
Gravenberch selbst ist zufrieden mit seiner Anfangszeit in England: "Ich habe einen guten Start hingelegt und bin darüber sehr glücklich." Nach seinen ersten Toren auf internationaler Bühne sei sein nächstes Ziel sein erstes Premier-League-Tor zu schießen. "Ich brauche eins", kündigte er auf der Website des FC Liverpool an. Lange dürfte es wohl nicht mehr dauern...