Sir Peter Jonas: "Kein Londoner ist Chelsea-Fan"
Der Engländer war Münchens Opern-Intendant – und erklärt hier, warum der FC Bayern reif für die größte Bühne ist, weshalb die Blues auf der Insel so unbeliebt sind – und wieso er Klinsmann schätzt
AZ: Sir Peter, die große Bühne ist bereitet, der FC Bayern kämpft in seinem Reich – der Allianz Arena – gegen die Invasion von der Insel in Form der Chelsea-Untertanen des Geldadeligen Abramowitsch, um die Krone in Europa.
SIR PETER JONAS: Wenn das nicht nach großer Oper klingt! Wenn jetzt noch der Filou Ribéry in der 91. Minute die Bayern zum Sieg schießt, ist das der Beweis: Die Oper ist wirklich nicht beendet, ehe die dicke Frau nicht gesungen hat. Überhaupt ist Ribéry einer der wenigen Spieler bei Bayern, der in der Lage ist – auf den Fußball übertragen – das hohe C regelmäßig zu treffen. Insgesamt ist Bayern ein wunderbares Team, aber es fehlt ihm insgesamt ein bisschen Flair. Bayern ist sehr strukturiert, sehr substanzorientiert, aber nicht der unterhaltsamste Klub der Erde.
Wenn Sie sich die Geschichte des FC Bayern ansehen, bühnenreif ist das aber allemal!
Absolut. Der Klub, der in seiner Frühzeit als jüdischer Verein angesehen wurde, das war sehr edel, das hat eine noble Tradition. Dann kam die finstere Zeit des dritten Reiches, in der der Klub keine rühmliche Rolle spielte. Man verlor gegenüber dem Stadtrivalen 1860 an Popularität, dann die Renaissance des Vereins. Die Auferstehung, die großen Triumphe, man stieg zur internationalen Größe auf, erlebt schreckliche sportliche Tragödien, wie das verlorene Finale gegen Manchester United. Das ist großer Stoff. Der FC Bayern war immer sehr, sehr eng mit der Politik verbunden, deswegen erinnert mich der FC Bayern an „Simon Boccanegra”.
Die Oper von Giuseppe Verdi.
Es geht um zwei Parteien, die in Genua einen parlamentarischen Konflikt austragen, der aber auch in das normale Leben hineinspielt Eine sehr politische Oper für einen sehr politischen Klub.
Und der FC Chelsea? Für welche Oper steht der Verein?
Chelsea ist wie „Rigoletto”.
Eine tragische Oper – ebenfalls von Verdi.
Ja, die Oper ist brutal durch und durch, sie endet in Mord. Das ganze ist etwas unpersönlich. So wie Chelsea eben.
Das müssen Sie erklären. Sie sind ja in London, nicht weit von Chelseas damaliger Heimat entfernt, aufgewachsen.
Chelsea war immer ein sehr unsympathischer Klub. Kein Londoner ist Chelsea-Fan! Ich bin – wie in England üblich – ein angeborener Fußballfanatiker mit angeborener Treue zu einem Klub. Diese Treue hält bei uns ein Leben lang. Bei mir ist es Crystal Palace. Die haben in meiner Jugend oft gegen Chelsea gespielt – und immer verloren. Chelsea hatte nie einen echten Charakter. In London gibt es 16 Ligamannschaften, die sympathischsten sind die, die mit ihrem Ortsteil tief verbunden sind, die den Geist der Gegend repräsentieren. Das hat Chelsea nie getan. Chelsea war früher ein extrem harte, ja, brutale Mannschaft. Peter Osgood, die Chelsea-Ikone steht für deren Spiel. Er war ein brutaler Panzer von einem Mann, der nicht eine Faser von Eleganz in seinem Körper hatte. Das war Chelsea, hart, brutal. Wie Rigoletto. Und jetzt, jetzt ist Chelsea nur noch teuer. Man hat sich Erfolg erkauft, das ist nicht sympathischer.
Und das widerspricht eigentlich dem Selbstverständnis des britischen Empire.
Das Problem ist nur, dass wir kein Empire mehr sind.
Aber auch dem Fairplaygedanken widerspricht das.
Stimmt, aber Fairplay gibt es leider auch nur im Cricket.
Wie sehen Sie denn die Figur des Roman Abramowitsch, des russischen Oligarchen, der sich Chelsea gekauft hat?
Obstrus, er ist nicht zu fassen. Er ist enorm reich und total rücksichtslos. Aber er brachte auch Stabilität, er ist kein Fähnlein im Winde.
Was ist das Erfolgsrezept des englischen Fußballs?
Ich denke, dass man da auf Winston Churchills Analyse über den Erfolg der britischen Kriegsmarine verweisen kann. Er meinte bei einer Rede im Parlament: Der Erfolg fuße auf drei Säulen. Rum, der Peitsche und Sodomie (lacht).
Da kriegt jetzt Sir Peter aber keinen Orden für politische Korrektheit!
Mich stört die politische Korrektheit im Sport sehr. Das ist alles so ernst. Um Gottes Willen, es geht um Fußball, ein Spiel. Es geht nicht um Krieg, nicht um Afghanistan. Sport lebt von seinen Emotionen und die sind nicht immer politisch korrekt. Die Oper lebt auch von Emotionen und ist genauso wenig politisch korrekt. Alle Abgründe der menschlichen Seele werden da thematisiert. Im römischen Reich haben die Cäsaren, wenn sie das Volk belustigen wollten, für 30 Tage Spiele gefeiert. Diese Rolle hat heute der Fußball als kollektives Ritual, ich finde es schade, wenn das zu ernst genommen wird. Die Menschen werden immer eine Ersetzung der Religion durch den Sport suchen. Das ist der Fußball. Die Spieler sind die Gladiatoren der Neuzeit. Hochbezahlt, kurzlebig und sehr gefährlich.
Was fasziniert einen Mann der feinen Künste wie Sie an der Welt des Fußballs?
Es gibt viele Parallelen. Ein Opernhaus ist ähnlich schwer zu führen, wie ein Fußballklub. Es gibt Allüren und Primadonnen. Nur im Opernhaus hat man jeden Tag ein Spiel und das muss man jeden Tag gewinnen. Wenn man verliert, wenn der Sänger den Ton nicht trifft, ist das Publikum genauso rücksichtslos wie die Fans im Stadion.
Was die Dramatik angeht...
... auch da ist es doch sehr ähnlich. Die gleichen Elemente, die ein Stück zu einer großen Oper machen, sorgen auch dafür, dass ein Fußballspiel zu einem Erlebnis wird. Das Auf und Ab, kleine Dramen und Tragödien, das Element des Unberechenbaren. Die Mechanismen sind ähnlich. Fußball ist lebende, harte Choreographie. Wenn Sie sich einen Lionel Messi – zum Teil auch Ribéry – auf dem Platz ansehen, ist das Poesie, das ist Ballett auf dem Rasen, jede einzelne Bewegung ist Kunst. Das System des FC Barcelona ist Kunst. Wobei ich zugeben muss, dieses System hat auch einen inhärenten Fehler.
Lassen Sie hören!
Der Ansatz, den Ball in den eigenen Reihen 100 Mal hin und her zu schieben, kann auch langweilen. Er hat etwas Onanistisches. Eine Theatralik, die nur für einen selbst existiert.
Was halten Sie von der Theatralik des Arjen Robben, der als fliegender Holländer den schnellen Bodenkontakt sucht, ständig reklamiert?
Das ist eine Entwicklung, die mir nicht gefällt. Es gibt Spieler, die mehr am Boden sind als laufen. Das ist eine Doofheit. Es gibt auch eine Theatralik, für die es in meinem Augen keine Bühne gibt. Nicht auf dem Fußballfeld und auch nicht auf der Opernbühne.
Wer ist denn Ihr Lieblingsspieler in der Bayern-Historie?
Klinsmann!
Öha!
Ja, er ist für jeden Engländer der Held. Er war der erste Deutsche, der sich auf die Insel wagte. Er war ein frischer Wind für den Fußball dort, weil er sich als Deutscher wie ein englischer Gentleman benommen hat. Und das in einer Zeit, in der sich die Engländer lieber als Rowdys benommen haben. Ihn mag ich – und für das Finale gehört den Bayern meine emotionale Sympathie. Aber es wird schwer. Chelsea hat dieses Element des Melodramas, das den Bayern fehlt. Chelsea überlässt den Bayern das Spiel solange, bis die denken, dass sie alles kontrollieren, sie täuschen vor, Angst zu haben. Und dann schlagen sie gnadenlos zu. Das ist bedachte Täuschung. Chelsea hat mehr Potenzial für das Dramatische als die Bayern. Die sind da etwas deutscher.
Soll heißen?
Deutschland steht für Struktur und Substanz, England für Form und Drama. Wir werden sehen, welcher Ansatz zur Thronbesteigung führt.