Rückstand und Vorsprung: Was dem FC Bayern zur internationalen Spitze fehlt

München - Die etwas mehr als 90 Minuten Champions League vom Dienstag und die deutlich mehr als 120 Minuten vom Mittwoch sollten sich alle Spieler des FC Bayern als Anschauungsunterricht herunterladen. Zwei Halbfinals als Lehrbeispiele fürs Hinterstübchen.
Lehrbeispiel eins
Einmal, wie sich der FC Liverpool beim FC Villarreal, an Ort und Stelle des Münchner Scheiterns im Viertelfinale, nach einem 0:2-Pausenrückstand (und damit Gleichstand nach dem 2:0 der Reds im Hinspiel) kurz schüttelte, taktisch disziplinierte und die so aufopferungsvoll kämpfenden wie aufmüpfig kickenden Gelben aus der Kleinstadt dann in Durchgang zwei locker besiegte.
Lehrbeispiel zwei
Und zweitens: Real Madrid. Wie beeindruckend die "greisen" Heroen um Karim Benzema, Toni Kroos, Luka Modric & Co. gegen Manchester City dem Aus von der Schippe sprangen, war der erneute Beweis von Immer-Noch-Qualität (gepaart mit Juwelen wie Camavinga, Rodrygo, Vinicius Junior) und Mentalität. Diese Mischung, perfekt zubereitet von Genussmensch Carlo Ancelotti, trifft im Finale auf die Menschenfänger-Attitüde von Liverpools Glücksfall Jürgen Klopp.
Die Bayern können hier nicht mithalten
Was das mit dem FC Bayern dieser Tage zu tun hat? Wenig – und zugleich eine Menge. Denn in Sachen Qualität hatte die Mannschaft von Trainer Julian Nagelsmann im Konzert der letzten Vier in dieser Saison herzlich wenig zu suchen.
Auch wenn gegen Villarreal im Rückspiel nach dem 1:0 alles auf eine Verlängerung eingestellt war und nur ein Tor zum Halbfinale fehlte. Doch die erschreckend schwache Leistung im Hinspiel mündete in den glücklichen Umstand einer knappen 0:1-Niederlage.
Riesige Lücke zu Europas Besten
Die Lücke zu den Großen Europas, zu den beiden Finalisten sowieso, aber auch zu Manchester City, Villarreal (keine Eintagsfliege, schließlich immer noch Europa-League-Titelinhaber!) und anderen Viertelfinal-Verlierern wie FC Chelsea, dem Vorjahres-Champion, und der Rabaukentruppe Atlético Madrid scheint aktuell riesig.
Anders betrachtet: Seit dem Champions-League-Triumph 2020 unter Cheftrainer Hansi Flick hat Bayern keinen Großen in Europa bezwungen, mal abgesehen von Atlético und dem damals schwächelnden FC Barcelona in den Gruppenphasen.
Niederlagen in der Champions League
Im Achtelfinale 2021 schaltete man Lazio Rom aus, im Achtelfinale dieses Frühjahrs RB Salzburg - jeweils Pflichtaufgaben. Das knappe Aus trotz spielerischer Überlegenheit gegen Paris St.-Germain und das vermeidbare Scheitern gegen Villarreal waren komplett anderer Natur, aber gegen die Natur der eigenen Ansprüche.
Das sagt Bayern-Vorstand Kahn
Bayerns Vorstandsboss Oliver Kahn benannte die Sphären, in die man sich in Europa wünscht, mit "Top vier, am besten Top drei". Doch hier hat man einen deutlichen Rückstand (siehe auch die subjektiv erstellte AZ-Tabelle des aktuellen europäischen Klub-Rankings) aufzuholen. Etwas, das man nicht kennt aus dem nationalen Wettbewerb.
Fluch und Segen zugleich
Die zehnte Meisterschaft, für die es am Sonntag nach dem Heimspiel gegen Stuttgart (17.30 Uhr, DAZN) die Schale gibt, ist Ausdruck der sportlichen und wirtschaftlichen Überlegenheit in der Bundesliga. Zwölf (!) Punkte vor Borussia Dortmund sind Fluch und Segen zugleich.

Meister werden ist "nicht ausreichend"
Vorsprung hier, Rückstand dort. Lediglich Meister zu werden, "ist für Bayern, glaube ich, nicht ausreichend", musste Nagelsmann am Ende seines Premieren-Jahres als Trainer erkennen. Und in der Champions League sei "das Halbfinale ja immer das Minimalziel". Status: nicht erreicht.
Für den erneuten Anlauf auf die Schale (Mottovorschlag: elf Titel müsst ihr sein) und das angestrebte Rendezvous im Champions-League-Halbfinale 2023 setzt man an der Säbener Straße auf Nagelsmann und dessen Erkenntnisgewinn ("Wir sind an einem Punkt, wo wir was verändern müssen") aus Jahr eins. Außerdem stehen die letzten ein, zwei Anläufe der Oldies Manuel Neuer und Thomas Müller auf ihren dritten Henkelpott-Coup an. Sollte der Kader qualitativ - und nicht wie zuletzt häufig quantitativ - aufgepeppt werden und sollte Toptorjäger Robert Lewandowski kommende Saison auch noch (und bester Laune!) mitmischen, ist beides drin: Vorsprung halten, Rückstand aufholen.