"Paradox, wild, wahnsinnig": Der FC Bayern bleibt nach dem Manchester-Spektakel eine Wundertüte

Das 4:3 gegen Manchester United in der Champions League offenbart das Grundproblem des FC Bayern: vorne hui, hinten pfui. "Sie bleiben eine Wundertüte, bei der man nicht weiß, was man bekommt."
von  Patrick Strasser
Bayerns wilder Achterbahn-Fußball - wie beim 4:3 gegen Manchester United bereitet - Trainer Thomas Tuchel so seine Sorgen.
Bayerns wilder Achterbahn-Fußball - wie beim 4:3 gegen Manchester United bereitet - Trainer Thomas Tuchel so seine Sorgen. © Sven Simon/imago

München - Von oben sieht die Welt doch ganz anders aus. Weil man über den Dingen steht – beziehungsweise sitzt – wie Thomas Tuchel am Mittwochabend in der Allianz Arena?

Aufgrund einer Uefa-Sperre aus der vorherigen Champions-League-Saison hatte der Bayern-Trainer Kontaktverbot zu seiner Mannschaft und den Assistenten an der Seitenlinie, durfte beim Vorrunden-Auftakt gegen Manchester United nicht in die Katakomben und in die Kabine. Der Blick aus einer Loge auf der Gegengerade – eine lehrreiche Erfahrung?

Fortschritte beim FC Bayern? Nach Rückschlägen fällt das Team nicht mehr zusammen

"Das brauchen wir nicht zu wiederholen", sagte Tuchel nach dem wilden, nervenaufreibenden 4:3 gegen die Briten. Von oben habe er zwar "einen sehr guten Blick" auf das Spiel gehabt, den Taktik-Überblick. Doch die "räumliche Distanz" habe bei ihm "eine emotionale Distanz" geschaffen. So ist zu erklären, dass der 50-Jährige nach der Partie ungewohnt milde gestimmt war trotz des Fehlerfestivals der Teams, das den Fans beste Unterhaltung bot.

Das 4:3 wertete Pragmatiker Tuchel als "ein bisschen paradox". Nach nicht so guter erster Halbzeit überraschend 2:0 geführt, nach besserem zweitem Durchgang unterm Strich 2:3 verloren", sagte Bayerns Cheftrainer nach der Partie gegneüber "DAZN". Die jeweiligen Reaktionen seiner Mannschaft auf die Gegentore zum 2:1, 3:2 und 4:3 bewertete er als "sehr gut". Nach Rückschlägen falle "die Mannschaft nicht mehr zusammen" wie so oft in der Vorsaison.

4:3 gegen Manchester United: Der FC Bayern bleibt eine Wundertüte

Doch der Fußball-Lehrer, dem ein strukturiertes 1:0 mit Kontrolle, Dominanz und Ballbesitzfußball lieber ist als ein 3:1 oder 4:2, sieht viel Rede- und Erklärungsbedarf nach dem "komischen" (Thomas Müller), "wilden" (Leroy Sané), gar "wahnsinnigen" (Harry Kane) Spiel. Für DAZN-Experte Michael Ballack, ehemals Kapitän der Roten, "bleiben die Bayern die Wundertüte, bei der man nicht weiß, was man bekommt".

Der Münchner Achterbahnfußball ist wie eine Fahrt in der Wilden Maus auf dem Oktoberfest. Rauf, runter, hoher Puls – samt Erleichterung, wenn's vorbei ist und man es überstanden hat.

Das stabile Gerüste fehlt Trainer Thomas Tuchel weiterhin

Defensiv teils ohne Ordnung und Absicherung aus dem Mittelfeld-Zentrum, offensiv mit Durchschlagskraft und herrlichen Treffern wie von Sané, Serge Gnabry und dem kaum zu stoppenden Joker Mathys Tel als wuchtigem Schlussakkord. Dazu kam der verwandelte Elfmeter von Kane. "Offensiv war es gut, aber wir müssen weniger Fehler machen", forderte Flügelstürmer Sané.

Vorne hui, hinten pfui – das Spiel gegen ManUnited steht exemplarisch für Tuchels Grundproblem, das er mit seinem Kader hat. Weiter fehlt ihm die "holding six", der wirklich defensiv denkende Sechser, der Joshua Kimmich in seinen Augen eben nicht ist.

Daran macht Tuchel nahezu alle Gegentore fest: Beim 0:3 im Supercup gegen Leipzig, beim 2:2 im Liga-Topspiel gegen Leverkusen und nun die drei gegen den englischen Rekordmeister. Aber kann man sich so bis zur Winterpause durchmogeln, bis die Münchner Bosse einen neuen Anlauf unternehmen, den von Tuchel ersehnten Sechser-Heilsbringer João Palhinha zu verpflichten? Der Transfer des Portugiesen vom FC Fulham war am Deadline-Day gescheitert.

Tuchel fehlt ein stabiles Gerüst, damit Kontrolle und Zuverlässigkeit, was er mit dem Mangel an Führungspersonal verknüpft. Vor allem Kimmich und Leon Goretzka dürfen sich erneut angesprochen fühlen. Der neue Sportdirektor Christoph Freund betonte, dass Kimmich "auch auf der Sechs ein Weltklasse-Spieler" sei.

Da muss einer, ganz frisch im Amt, hier und da immer wieder Glut austreten, die neu aufflammt. Auch Müller versuchte sich als Feuerlöscher, meinte, seine Analyse der guten Laune im Kader höre sich "nach rosaroter Wunderwelt an". Es sei "aber bei uns aktuell tatsächlich so". Wer's glaubt.

Samstag gegen den VfL Bochum: Tuchel wieder dabei, dafür ist sein "Co" gesperrt

Laut Cheftrainer Tuchel hätten es seine Assistenten Zsolt Löw und Anthony Barry als Aushilfs-Chefs "sehr gut gemacht". Am Samstag, wenn es in der Bundesliga gegen den VfL Bochum geht (15.30 Uhr, Sky), ist das Trainerteam erneut auseinandergerissen.

Aufgrund der Roten Karte nach Spielende gegen Leverkusen muss Assistent Löw für eine Partie auf die Tribüne. Aber Tuchel ist ja dann wieder zurück am Spielfeldrand. Dicht am Geschehen. Am Rande des Wahnsinns.

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