Serie

Oliver Kahn und der FC Bayern: Der Gladiator und die Liebe

Teil II der AZ-Serie über Oliver Kahn: Seine Zeit als Torhüter des FC Bayern. Sportlich erlebt er unglaubliche Höhen, aber auch tiefe Abgründe. Im Privatleben ändert sich bei ihm fast alles.
von  Patrick Strasser, Matthias Kerber
Ende, Legende: Oliver Kahn trug bei seinem Abschiedsspiel ein letztes Mal das Trikot des FC Bayern.
Ende, Legende: Oliver Kahn trug bei seinem Abschiedsspiel ein letztes Mal das Trikot des FC Bayern. © Tobias Hase/dpa

München - Fußballerkarrieren, und nicht nur die, werden gerne reduziert auf diesen einen, singulären Spruch, der am besten neben Erfolg und Misserfolg auch die Haltung des Sportlers bündelt. Bei Oliver Kahn, dem Spieler, dem Torhüter, dem Adrenalin-Junkie der Strafräume, dem Menschen, der zwischen den Pfosten zum Titan wurde, erinnert sich jeder an: "Eier, wir brauchen Eier!" – als Antwort auf die Frage eines Reporters, was den Bayern beim FC Schalke gefehlt habe.

Für die Dokumentation "Oliver Kahn und die Dinge des Lebens" (2006) sitzt dieser Kahn, dieses Torwart-Urviech, dieser Freiheitskämpfer in seinem 16-Meter-Gehege, dieser Einzelsportler in einem Mannschaftskorsett an einem Münchner Restaurant-Tisch mit Seeblick. Ein eiskalter Januar-Nachmittag wenige Monate vor der Heim-WM in Deutschland, ein Gedicht von einem Wintertag. Kahn zögert, als er von einem Blatt Papier eine Prise Poesie vorlesen soll.

Oliver Kahn trägt Gedicht vor: Die zerbrechliche Seite eines Titans

Er schnauft, blinzelt, wirkt zerbrechlich. Aber Kahn wäre nicht Kahn, würde er die Herausforderung nicht annehmen.

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Er trägt das Gedicht gekonnt vor. Noch währenddessen beginnt es, in ihm zu arbeiten. Der Panther im Käfig – das bin ich! Gefangen im Strafraum, ebenso im eigenen Anspruchsdenken und äußerem Druck.

Oliver Kahn der tragische Held 2002: Der einsame Job des Torhüters

Damals schwante ihm, dem besten Spieler der WM 2002, dem "King Kahn", dem dreimaligen Welttorhüter, dem zweimaligen Fußballer des Jahres Deutschlands, dass er den vermeintlichen Höhepunkt seiner Karriere nur als Statist verfolgen darf. Als Ersatzmann von Rivale und Feindbild Jens Lehmann, den Bundestrainer Jürgen Klinsmann zur Nummer eins gekürt hat. Als Nummer zwei ist Kahn gefangen, in sich und seinen Emotionen, die er für das Wohl und Wehe der Nationalelf unterdrückt.

Nach dem Spiel um Platz drei, seinem Gnadeneinsatz, tritt er aus dem DFB-Team zurück. Nach 86 Länderspielen, einem passiv errungenen Titel (Europameister 1996 als junger Bankdrücker) und einer WM in Asien, die er zunächst beinahe alleine gewinnt, um sie mit einem Patzer im Finale von Yokohama gegen Brasilien (0:2) beinahe alleine zu verlieren. Torhüter sind einsam. Sie gewinnen zusammen, sie verlieren alleine.

Kahn beim FC Bayern: "Moderne Gladiatoren" für Brot und Spiele

Diese Zerrissenheit begleitet den gebürtigen Karlsruher Kahn nach seinem Wechsel zum FC Bayern 1994 noch intensiver. Sein System, sein Erfolg beruht auf Besessenheit. Ungesund, aber – für ihn – nicht zu ändern.

Die Kapitel seines 2004 veröffentlichten Buches "Nummer eins" (was sonst?!) tragen Überschriften wie "Willenskraft", "Druck", "Erfolg", "Einsamkeit" oder "Geld". Allesamt ständige Wegbegleiter. Versagensängste? Nicht doch! Oder doch? Kahn schreibt: "Manchmal beschleicht mich das Gefühl, als seien wir Profifußballer nichts anderes als moderne Gladiatoren. In einer brodelnden Arena stellte sich der Gladiator Maximus den hungrigen Massen und forderte das gesamte römische Imperium heraus. Das bin ich, ging es mir durch den Kopf!"

Mit Rücksicht (für sich und andere) zum Erfolg

Zwei Jahre dauert es, bis der überehrgeizige Kahn seinen ersten Titel in München gewinnt, den Uefa-Cup. Kahn ist knapp 27 Jahre alt, noch lange nicht am Zenit und noch viel zu oft in der Muckibude. Erst später lernt er, mehr auf seinen Körper Rücksicht zu nehmen – und auf andere.

Er wird zum Grenzgänger, der bis ans Äußerste, ans Maximum geht und dennoch nicht aus seiner Haut kann. 1996 schüttelt er seinen eigenen Mitspieler Andy Herzog durch. 1999 fliegt er mit einem Kungfu-Sprung knapp am Dortmunder Stéphane Chapuisat vorbei, knabbert BVB-Stürmer Heiko Herrlich am Hals. In Leverkusen packt Kahn 2002 seinen Gegenspieler Thomas Brdaric am Nacken, der Karnickelgriff. Er habe "Todesangst" verspürt, sagte das Opfer hinterher.

Beim FC Bayern erfolgreich, gestrauchelt im Privatleben

Der Gladiator bietet sogar dann dem Gegner und den Fans die Stirn, wenn ihm wie im April 2000 in Freiburg ein Golfball aus dem Publikum an der Schläfe trifft. Nachdem die Blutung gestillt ist, spielt er weiter. Wäre ja noch schöner. Das "Weiter, immer weiter" wird sein Mantra. Diese, seine Stärke mutiert über die Jahre zu seiner Schwäche.

Wer hoch fliegt, fällt tief. Der körpereigene Schutzschild wird brüchig und erfährt Risse wie seine täglichen Werkzeuge, die Torwarthandschuhe. Eine Ehekrise ist kein verlorenes Europacup-Hinspiel. "Dann muss ich das Rückspiel eben alleine gewinnen", noch so ein typischer Kahn-Spruch, funktioniert privat nicht.

Auch in der Liebe geht es für Oliver Kahn drunter und drüber

Er verlässt 2003 Frau Simone und die Kinder, genießt das wilde Partyleben mit Barkeeperin Verena, die er im P1 kennenlernt. Der Oli aus Karlsruhe wird größenkahnsinnig. Strafzettel als Auszeichnungen, sein roter Ferrari als Politikum, seine Mode kann nicht extravagant genug sein. Eine rätselhafte Augenentzündung peinigt ihn, der Gladiator trägt Stirnband. Nichts und niemand hält ihn auf – in seiner Welt.

2008, mit 39, macht er Schluss. In seinem Colt acht Meistertitel-Kerben ("Da ist das Ding!"), sechs Pokalsiege, ein Champions-League-Triumph 2001 mit drei gehaltenen Elfmetern, ein Weltpokalsieg. Nach 632 Pflichtspielen für Bayern muss aus dem Titan Kahn wieder der Mensch Oli werden. "Wenn man möchte, fällt man in ein Loch", glaubt er. Gelingt ihm die Metamorphose? Sein Käfig steht nun offen. Wie der Panther, in die Freiheit entlassen, damit klarkommt, lesen Sie in der nächsten Ausgabe.

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