Nach dem legendären 4:1 vor 15 Jahren: Das sagt Bayern-Legende Jörg Butt heute

AZ: Hallo Herr Butt, am 8. Dezember jährt sich ein legendäres Spiel für den FC Bayern zum 15. Mal – das 4:1 bei Juventus Turin in der Champions-League-Gruppenphase 2009/10. Sie standen im Tor und erzielten per Elfmeter das 1:1. Was kommt Ihnen zuerst in den Sinn?
JÖRG BUTT: Wir hatten in dieser Saison mit Louis van Gaal einen neuen Trainer, der am Anfang nicht alles so umsetzen konnte, wie er sich das vorgestellt hatte. Dementsprechend lief es zunächst nicht berauschend. Wir mussten in Turin gewinnen, ansonsten wären wir in der Champions League rausgeflogen – für Bayern-Ansprüche eine Katastrophe. Auch in der Bundesliga waren wir zu diesem Zeitpunkt nur Vierter. Der Druck war also gewaltig, das Spiel in Turin wahnsinnig wichtig. Und letztlich der Wendepunkt. Danach ging es bergauf, wir haben eine super Saison gespielt.
Uli Hoeneß hat später mal verraten, dass van Gaal bei einer Niederlage gegen Juve noch im Winter entlassen worden wäre. Mit Blick darauf, was alles kam beim FC Bayern: Hätte es die folgende Erfolgsära bei einem Aus in Turin vielleicht nie gegeben?
Ich glaube schon, dass van Gaal sehr großen Einfluss auf die Entwicklung des Klubs hatte. Der Ballbesitzfußball aus der Barcelona- und Holland-Schule hat den gesamten Fußball in den letzten 15 Jahren geprägt. Und die Trainer, die später zu Bayern kamen wie Pep Guardiola, haben auf dieser Spielweise aufgebaut. Insofern war 2009 ein gewisser Anfang.
Butt über den Elfmeter in Turin: "Diesen Gedanken muss man ausblenden"
Gehen wir rein ins Spiel. Juve führte früh durch David Trezeguet, dann erhielt Bayern einen Strafstoß. Sie waren dafür bekannt, Elfmeter nicht nur parieren, sondern auch schießen zu können. 37 Tore machten Sie auf diese Weise – aber bis dato keines im Bayern-Trikot. War trotzdem gleich klar, dass Sie antreten?
Ich gehörte auf jeden Fall zum Kreis der Schützen, weiß aber nicht mehr genau, ob ich Schütze Nummer eins sein sollte. Ich erinnere mich, dass Bastian Schweinsteiger sofort reagiert und mich nach vorne gewunken hat.
Sie haben 63 Champions-League-Spiele für den HSV, Leverkusen und Bayern bestritten und dabei drei Elfmetertore erzielt – für jeden Verein eines, immer gegen Juve. Zweimal stand Ihnen Gianluigi Buffon gegenüber, einmal Edwin van der Sar. Wie gingen Sie 2009 gegen Buffon vor?
Intuitiv. Ich wusste vorher nicht, wohin ich schieße, sondern habe meistens auf das Verhalten des Torwarts reagiert. So auch hier mit Buffon.
Möglicherweise war es gut, dass Sie nicht wissen konnten, dass an Ihrem Schuss ein bisschen der Verlauf der weiteren Geschichte des FC Bayern hängt…
Als Torhüter hat man ja die ganze Zeit diese Situation: Du darfst dir im Grunde keinen Fehler erlauben, hast oft wenig Aktionen, musst dich aber immer fokussieren und konzentrieren. In diesem Moment habe ich nicht darüber nachgedacht, was es bedeuten könnte, wenn ich verschieße. Wer am Elfmeterpunkt steht, muss diesen Gedanken ausblenden können.
Van Gaal? "Am Anfang fühlten sich einige überfordert und eingeengt"
Sie verwandelten souverän. In der zweiten Hälfte trafen Ivica Olic, Mario Gomez und Anatoliy Tymoshchuk, und Karl-Heinz Rummenigge sprach von einer "magischen Nacht". Die Saison endete mit dem Double und dem Champions-League-Finale (0:2 gegen Inter Mailand). Löste das Juve-Spiel gewisse Blockaden oder hat es einfach gedauert, um van Gaals fußballerischen Plan zu verstehen und umzusetzen?
In Turin mit 4:1 zu gewinnen, ist natürlich etwas Besonderes, gerade in dieser Höhe. Das hat psychologisch sicher etwas bewirkt, in der Mannschaft ist eine gewisse Euphorie entstanden – aber es war nicht so, dass dieses eine Spiel alles verändert hat. Wir hatten uns schon in den Wochen zuvor stabilisiert, jeder Einzelne hatte besser verstanden, was van Gaal wollte. Am Anfang hatten sich einige vielleicht etwas überfordert oder eingeengt gefühlt.
Van Gaal wollte diesen Ballbesitzfußball implementieren.
Ja, aber er wollte nicht, dass Individualisten wie Arjen Robben und Franck Ribéry keine Freiheiten mehr bekamen. So war es einfach ein Annäherungsprozess zwischen Trainer und Mannschaft. Und im Laufe der Zeit hat van Gaal gewisse Dinge angepasst, um seine Ideen rüberzubringen.
Der Fußballlehrer Louis van Gaal ist aus mehreren Gründen eine Legende, neben allen Erfolgen auch wegen seiner, nun ja, eigenwilligen Art. Wie haben Sie ihn erlebt?
Fachlich natürlich überragend. Er war extrem fordernd, hatte eine klare Vorstellung von Fußball und konnte sie sehr gut vermitteln. Für jede Spielsituation hatte er Antworten und Lösungen, die er den Spielern mitgab. Das brachte Sicherheit. Als Persönlichkeit war es sicher schwierig, weil im Verein viele Charakterköpfe aufeinandergetroffen sind und er viele Dinge beeinflussen wollte – teilweise über das reine Trainer-Dasein hinaus.
Butt: "Neuer sehe ich noch auf absolutem Top-Niveau"
Im Winter 2010/11 verloren Sie Ihren Stammplatz an den 22-jährigen Thomas Kraft. Eine van-Gaal-Maßnahme, die für die meisten völlig überraschend kam. Nicht zuletzt innerhalb des Klubs.
Auch für mich war es damals enttäuschend und unverständlich, aber ich will da nichts hochholen. Es war eine Entscheidung des Trainers. Im Fußball kann und muss man nicht immer mit jeder Entscheidung einverstanden sein.

Schon erstaunlich, wie alles mit allem zusammenhängt: Auf Sie und Kraft folgte im Sommer 2011 ein gewisser Manuel Neuer – und steht bis heute im Bayern-Tor, mit inzwischen 38 und nach etlichen schweren Verletzungen. Wie beurteilen Sie ihn?
Natürlich ist er keine 28 oder 30 mehr, aber ich bin auch mit 34 zu Bayern gekommen und habe mich da nochmals weiterentwickelt. Als Außenstehender möchte ich keine Ratschläge geben, dazu kann ich seine körperliche Verfassung zu wenig beurteilen. Ich sehe Manuel nicht so kritisch wie andere, sondern aktuell noch auf absolutem Top-Niveau.