Nach 14 Jahren ist es endlich Liebe

Kahn hat in seinem letzten Jahr beim FC Bayern die Liebe der Fans gewonnen - obwohl er ihnen zum Schluss einen Gefallen verweigert.
MÜNCHEN Torhüter sind im Grunde Einzelsportler. Aber Oliver Kahn ließ sein Ego stecken. Als es um ihn ging, dachte er an die Mannschaft. An ihren Rekord, nicht an seinen. Egal, was die Leute denken. Egal, was die Leute wollen. „Auf geht’s, Olli! Schieß ein Tor!“, forderten die Fans ab der 70. Minute in der Allianz Arena. Sie wollten noch etwas Einmaliges sehen vom Einmaligen. Etwas, was es noch nie gab. Doch dieser Wunsch blieb unerfüllt.
Nicht mehr lang zu spielen. Bei Angriffen seiner Mitspieler auf das Hertha-Tor näherte sich Kahn immer mehr der Mittellinie. Es stand 4:0, er lauerte auf die Gelegenheit. In 557 Bundesligaspielen hatte er Tore verhindert; nun sollte er eins, ein einziges in seinem letzten Spiel, erzielen. Kahn blickte zur Videowand: Wie lange noch? Das Publikum drängte ihn. Aber Kahn blieb dann doch hinten. Wegen Valerie Domovchiyski. Wegen dessen Tor zum 1:4 der Hertha.
„Wenn es 4:0 gestanden hätte, wäre ich in den letzten fünf Minuten sicher nach vorne gestürmt“, sagte Kahn später, „aber durch das Gegentor wurde das schwierig. Wenn wir ein zweites Tor bekommen hätten, wäre das doppelt blöd gewesen. Deshalb war mir der Rekord für die Mannschaft wichtiger als ein eigenes Tor.“ Es ist der Gegentorrekord. Nur 21 Treffer hatten Kahn (26 Saisoneinsätze), Nachfolger Michael Rensing (10 Spiele) und die Bayern-Abwehr bekommen: ein historischer Bestwert, der den Kollegen eben wichtig war, wie Kahn später erzählte.
Einen Pokal gab’s dafür zwar nicht. Aber Kahn hat ohnehin viel mehr gewonnen in seinem letzten Karrierejahr: die Liebe der Fans.
„Danke für 14 Jahre Leidenschaft“ hieß es auf einem Transparent. Die 69000 in der Arena feierten ihn während der 90 Minuten, und die 35000 auf dem Marienplatz sangen später: „Olli, wir lieben dich.“ Immer weiter.
1994 war Kahn als 24-Jähriger vom KSC gekommen. Die Zuneigung der Fans, selbst der Bayern-Anhänger, wurde ihm nicht immer zuteil. Weil er polarisierte. Anders als Elber oder Ribéry. Kahn war einer wie Effenberg.
„Ich hatte immer wieder Spaß, vor allem Spaß am Training, Spaß, mich als Torwart zu verbessern“, sagte Kahn zuletzt im „SZ-Magazin“, „aber ich glaube nicht, dass ich den Zuschauern viel Spaß vermittelt habe, eher diese Mentalität des ,Nie-Aufgebens’.“
In dieser Saison machte er Spaß. Als Stürmer von Getafe. Als Nasenwischer für van Bommel. Als Parodist seiner selbst („Da ist das Ding“). Als Vortänzer. Am Samstag kniete er sich vor beide Fankurven, intonierte auch bei der Feier auf dem Rathausbalkon das „Humba-Humba-Tätärä“. Nur Tränen, die hatte er nicht im Programm. „Ich musste mich auf das Spiel konzentrieren und die gleichen Mechanismen wie immer abrufen.“ Kahn eben.
Sein Trikot tauschte er mit Schiedsrichter Markus Merk – reiner Respekt, keine Symbolik: „Nach dem Torwart-Job tue ich mir jetzt keinen Schiedsrichter-Job an.“ Dankbarkeit für seine Karriere, das empfand er. „Wer nur danach strebt, von anderen Menschen geliebt zu werden, wird es ganz schwer haben im Leben“, sagte er, „ich bin nicht angetreten, um vom Publikum geliebt zu werden.“
Am Ende ist es aber doch so gekommen.
Patrick Strasser