Markus Babbel über seine Zeit beim FC Bayern in der AZ: "Habe es nimmer ausgehalten in dieser Irrenanstalt"

AZ: Herr Babbel, Sie stellen allwöchentlich auf Ihrem Instagram-Kanal Tausenden Fans ein Lied vor. Wenn Ihre Karriere eine Werkwoche gewesen wäre, welches wirklich besondere Lied für den "Music Friday" würden Sie dafür auswählen?
MARKUS BABBEL: "It's a long way to the top (if you wanna rock 'n' roll)" von ACDC. Oder auch "Be yourself" von Audio-slave. Das sind sicher Titel, unter denen meine Karriere stehen könnte.
Sie hatten, das wird in Ihrer Autobiografie "It's not only Football" deutlich, keine Karriere wie Sie heute üblich ist und auf Schienen verläuft.
Nein, das ist eine andere Generation und sie ist auch so erzogen worden. Spieler mit Ecken und Kanten sind nicht mehr erwünscht, sie werden schon im Nachwuchsbereich aussortiert. Die wenigsten machen sich die Mühe, mit solchen Spielern zu arbeiten. Ich habe vor kurzem einen Bericht über Leroy Sané gesehen, da sagt der Trainer: Der hat falsch gemacht, was er falsch machen konnte. Trotzdem hat er sich durchgesetzt, diese Fälle gibt es auch. Es ist auch gut so. Wir wollen doch den Rock'n'Roll, egal in welcher Branche.
"Nach meinem ersten Rock-Konzert war es um mich geschehen"
Sie selbst galten stets als anständiger Kerl, aber direkt nach Spielende kam - es sei erlaubt, die vielen Musikbezüge in Ihrer Biografie aufzugreifen - bisweilen der Rage-against-the-machine-Modus in Ihnen durch.
(lacht) Die Musik war meine Revolution gegen meine Eltern. Ich komme aus Gilching, 16.000 Einwohner, die Eltern legten Schlager und Humpftata auf. Blasmusik gerne, aber doch nur auf dem Volksfest! Ich hatte wegen der Pendelei zum Training auch gar nicht die Zeit für Blödsinn. Die Musik haben die Eltern dann akzeptiert, auch wenn es dann lauter im Zimmer wurde. Metal muss man laut hören. Mein Bruder hatte angefangen, harten Metall zu hören. Ich habe schnell Sympathie dafür gefunden und nach meinem ersten Rockkonzert war es um mich geschehen.
Ihr Bruder Gerhard nahm sich, Sie waren da gerade bei der U17-Nationalmannschaft, das Leben. Ist die Musik ein Mittel, ihn weiter bei sich zu behalten?
Ja, ganz klar. Das ist die Verbindung, die ich mit meinem Bruder hatte. Er war in der Ausbildung und hatte Schallplatten, die konnte ich mir mit den Nutscherl an Taschengeld nicht leisten. Obwohl mein Bruder inzwischen lange tot ist, sind wir durch die Musik weiter in Verbindung.
"Ich hatte einen Tresor in mir"
Sie wurden am frischen Grab des Bruders ohnmächtig. Später herrschte dann Stille in der Wohnung der Babbels. Wie sind Sie als junger Kerl damit umgegangen?
Wir waren eine Familie, in der Probleme nicht groß besprochen wurden. Das hat manchmal Vorteile, aber es gab auch Momente, da hätte man es tun müssen. Es war so: Ich hatte einen Tresor in mir, da schluckte ich alles runter und warf den Schlüssel weg, damit ich ihn nie wieder finde. Ich habe versucht, die Emotionen zu verdrängen. Das ist die spannende Geschichte: Dann kam das Buch auf den Tisch, ich war über das Angebot überrascht. Wenn man es macht, macht man es richtig, fand ich. Eben so, wie ich mein Leben erlebt habe. Die Arbeit am Buch hat mir geholfen, dass ich dorthin gehen konnte, wo es richtig wehtat, wo die offenen Wunden waren. Es hat mir geholfen, die vergrabenen Emotionen zu verarbeiten und zu verdauen. Und vor allem: meinen Frieden damit zu finden. Es ist über die Jahre immer wieder mal hochgekommen.
Kürzlich hatten Sie die erste Familienfeier bei den Eltern nach Ihrer Aufarbeitung. War die Feier anders?
Es ist nicht so, dass ich jeden Tag an den Tod meines Bruders gedacht hatte, eben, weil ich es zu verdrängen versucht hatte. Aber die Aufarbeitung hat es jetzt natürlich einfacher gemacht, ganz klar.
Über Uli Hoeneß: "Er kann verzeihen und Größe zeigen"
Sie haben sich nach dem Tod Ihres Bruders fest auf den Fußball konzentriert und beim FC Bayern Karriere gemacht. Sie beschreiben viele bunte Episoden: Sie haben bei einem Unfall in einem Spiel mit Ihrem linken Hoden das Kreuzband Oliver Kahns zerfetzt. Und nach einem Spiel, da waren Sie mal derartig angefressen, dass Sie kurz davor waren, Uli Hoeneß bei einer Standpauke eine zu schallern.
Ja, das ist jetzt aber komplett abgehakt. (lacht) Vor ein paar Jahren hat mein Freund Jens Jeremies bei mir angerufen, er lachte zur Begrüßung ins Telefon. Er war gerade vom Schafkopfen mit Uli Hoeneß, Karl Hopfner und Fredi Binder gekommen. Jerry hatte ihn dort gefragt: "Uli, du provozierst doch so gerne. Hast du nie Angst gehabt, dass dir mal einer eine reinhauen würde?" Da hat der Uli geantwortet: "Nur einmal. Als der Babbel mich am Krawattl hatte." (lacht) Ich musste dann später ins Büro von Franz Beckenbauer. Das ist eine der ganz großen Stärken des Uli Hoeneß: Er kann verzeihen. Er verkauft dich nicht sofort an einen anderen Klub, er hält zu dir. Er ist mit Sicherheit ein streitbarer Mensch, aber er kann verzeihen und Größe zeigen.
Wenn Sie allgemein an Ihre Zeit beim FC Bayern zurückdenken, dann kriegt man nach der Lektüre den Eindruck: Da läuft im Hintergrund Zirkusmusik.
(lacht) Zirkusmusik oder was von The Prodigy - so was völlig Wahnsinniges. Auf der einen Seite war es eine coole Zeit. Auf der anderen Seite waren wir damals die Hochgeburt des FC Hollywood. Was heute bei den Bayern passiert, ist alles Kindergeburtstag gegen das, was damals lief. Deswegen haben wir leider zwei oder drei Meisterschaften hergeschenkt, sonst wäre ich vielleicht statt dreimaliger fünfmaliger Deutscher Meister. Wir waren die beste Mannschaft mit den besten Spielern, aber wir haben es in manchen Jahren einfach nicht geschafft, uns zusammenzufinden. Es war also zweischneidig: Einerseits bin ich stolz, für den FC Bayern gespielt zu haben, andererseits war es brutal anstrengend. Das hat so viel Energie gekostet, unnötige Energie.
"Ich musste raus und was Neues sehen"
Damals gab es viele Egos und zum Beispiel die internen Streitigkeiten zwischen Lothar Matthäus und Jürgen Klinsmann. Sie riefen dann im Geheimen sogar BVB-Trainer Ottmar Hitzfeld an, ob er Sie denn nicht bitte nach Dortmund wegholen könne. Ungewöhnlich.
Ja. Das war ein Punkt, da habe ich es nimmer ausgehalten in dieser Irrenanstalt. Ein Wahnsinn, was da los war. Und Ottmar hatte mir immer schon imponiert mit seiner Art und seinen Fähigkeiten als Trainer. Er ist ja dann auch nicht viel später mein Trainer bei den Bayern geworden. Wir konnten also doch noch zusammenarbeiten. Es war mit die schönste Zeit, aber ich bin dann weggegangen. Ich musste da raus und was Neues sehen.
Sie sind zum großen FC Liverpool gegangen. Es war die Hochphase Ihrer Karriere, Sie gewannen dort unter anderem den FA-Cup und den Uefa-Pokal. Gleichzeitig wurzelte in dieser Hochphase Ihr persönlicher Tiefpunkt.
Ja, trotzdem möchte ich die Zeit nicht missen. Mein Traum war es immer gewesen, in England zu spielen. Schon als Kind. Warum, das kann ich gar nicht sagen. Vielleicht wegen der "Sportschau". Da kam ein Spiel aus der Premier League, das hat mich fasziniert. Allein die Namen: Tottenham Hotspur, Leicester City. . . Spektakulär. Ich wollte ins Ausland, aber mit der Hitze kam ich nicht zurecht, Italien und Spanien schieden also aus. Als dann die Anfrage von Liverpool kam, wusste ich: jetzt oder gar nicht. Ich musste es auch machen, finanziell.

Sie vermissten, als Eigengewächs des FC Bayern, die Anerkennung übers Gehalt im Vergleich zu dem der Kollegen.
Der Wechsel war die richtige Entscheidung. Ich habe damals die beste Saison meiner Karriere gespielt, habe Titel gewonnen und ich habe einen fantastischen Klub erleben dürfen - dieses Wir-Gefühl unter den Reds-Fans und wie die hinter einem standen. Das war ganz speziell. Ich habe aber auch Tiefpunkte erlebt.
Es kam zur Trennung von Ihrer damaligen Frau und Sie erkrankten 2001 zuerst am Pfeifferschen Drüsenfieber, was eine indirekte Folge Ihres wilden Single-Lebens war - die "Kuss-Krankheit". War Ihnen der Fall des Sechzger-Stürmers Olaf Bodden bewusst? Er riet Ihnen damals, erst wieder ins Training einzusteigen, wenn Sie sich auch wirklich fit fühlten.
Natürlich habe ich von Olaf Bodden gewusst, der ebenfalls am Pfeifferschen Drüsenfieber erkrankt war. Ich war beim selben Immunologen wie er. Wir haben meinen Immunspiegel gemessen, er war bei 0,16. Der Immunologe sagte: "Ob wir das noch hinkriegen, weiß ich nicht." Wie bitte? Dann erzählt er mir, dass Boddens Immunspiegel bei 0,12 war. Ich war kurz davor, denselben tragischen Weg einzuschlagen wie Olaf Bodden.
"Ich bin stolz, dass ich den großen Kampf gewonnen habe"
Er leidet, wohl als Folgeerkrankung nach dem Pfeifferschen Drüsenfieber, am Chronischen Erschöpfungssyndrom und ist auf den Rollstuhl angewiesen.
Es ist bei ihm nimmer gut geworden und es wird wahrscheinlich auch nimmer gut bei ihm. Das ist die bittere Realität. Ich habe es hinbekommen und das Glück gehabt, wieder gesund zu werden. Mir geht es heute gut. Die Krankheitsgeschichte gehört zu meinem Leben dazu und ich bin stolz darauf, dass ich den großen Kampf gewonnen habe.
Die große Probe folgte für Sie kurze Zeit nach dem Pfeifferschen Drüsenfieber. Sie erkrankten am Guillain-Barré-Syndrom (GBS). Das ist eine Nervenkrankheit noch unbekannten Ursprungs, bei der es zu Muskellähmung bis hin mit Todesfolge kommen kann. Man erinnert sich noch an die Bilder, wie Sie, der kraftvolle 1,90-m-Hüne, schwach eine Pressekonferenz im Krankenhaus Harlaching gaben. Zwei Kilometer weg von Ihrer früheren Heimat an der Säbener Straße.
Der Professor (Roman Haberl; die Redaktion) war auf mich zugekommen: "Wir bekommen so viele Anfragen, das stört uns im Ablauf und hält unsere Mitarbeiter von der Arbeit ab." Ich habe mich bereiterklärt. Es war für mich natürlich ein schwerer, aber auch ein beeindruckender Tag. So viele Medienvertreter waren da. Als Bayern-Verteidiger aus der eigenen Jugend war ich so eine Aufregung um meine Person nicht gewöhnt. An den Reaktionen auf mich habe ich gemerkt, dass ich nicht gesund ausschaute. Das war erschütternd.
Sie hatten zehn Kilogramm abgenommen, trugen große Augenringe und waren teilgelähmt. In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Sie jede Treppenstufe sehr anstrengte. Eines Tages bekamen Sie dann Besuch vom irischen Schlagerbarden Chris de Burgh. Ist er ein Wunderheiler?
Meint er, meint er. (lacht) Er ist ein unfassbar sympathischer Mensch. Wir kannten uns von der Weihnachtsfeier in Liverpool. Er ist ein Riesenfan des Klubs, als Ire aber nicht sonderlich beliebt in England. Wir Deutsche, Finnen und so weiter in der Mannschaft haben ihn bei seinem Auftritt unterstützt, das hat er nicht vergessen. Er ist dann, als ich im Krankenhaus lag, spontan vorbeigekommen, um nach mir zu schauen. Was für eine Geste. Er hat mit eine Salzsteinlampe mitgebracht. Er hat mir die Hände aufgelegt und gesagt, dass mich mit seinen magischen Händen heilen wird. Na ja. (lacht) Ich habe ihm danach gesagt, dass ich mich besser fühle.
Abseits von Besuchen können Krankenhauszimmer sehr groß, leer, einsam und mucksmäuschenstill sein. Wie haben Sie es in den fünf Wochen geschafft, keine schlechten Gedanken zu bekommen?
Das war von Anfang an nicht mein Problem. Da war sofort mein Sportsgeist da, da hat mir meine Profikarriere geholfen: Wenn es Widerstände gibt, überwinden wir sie. Das Einzige, was irritierend war: Der Professor hatte mir gesagt, dass es in ein, zwei Wochen besser wird, aber es ist nicht besser geworden. Ich habe ihm dann gesagt, dass ich diese Rumeierei satthabe. "Sagen Sie mir es, wie es ist!" Dann hat er mir geantwortet: "Wir wissen es auch nicht, wir hatten auch noch keine Erfahrung mit Profisportlern mit GBS." Das war für mich aber auch eine Aussage. Ich musste Geduld beweisen, das habe ich nun gewusst. Ich hatte deswegen nie ein Problem damit, dass ich mental in ein Loch gefallen wäre oder tot gewesen wäre. Die Probleme kamen erst, als ich dann wieder einigermaßen fit war und nach England kam - ins leere Hause. Früher, mit den Kindern, da hatte das Haus gelebt. Nun konnte ich die Wände auf mich zukommen sehen. Da habe ich den Honigtopf für mich entdeckt und bin dabei hängengeblieben.

"Ich kann mich glücklich schätzen, dass es mir jetzt so gut geht"
Sie sind sozusagen dem Lebenshunger nach den fünf Wochen im Krankenhaus und nach der Reha-Zeit nachgegangen. Er führte Sie in die Pubs.
Bei Leuten mit schweren Krankheiten gibt es einen Punkt: Ich gebe meinen Reichtum her, ich will nur wieder gesund und ganz normal sein. Das bekommt dann eine andere Wendung. Ich war wieder fit, aber das normale Familienleben, das mich ausgezeichnet hatte, war nicht mehr da. Dann fängst du an, Sachen zu machen, die kontraproduktiv sind. Ich wollte in Liverpool spielen, aber es war mir einfach nicht möglich. Da war ein innerer Zwang, rauszugehen, in eine Bar, um ein Bier zu trinken. Und aus einem sind dann schnell fünf oder sechs geworden. Ich habe mir damit sicher keine Gefallen getan.
Hat der Lebenswandel Ihre Spielerkarriere verkürzt?
Was heißt verkürzt? Sonst hätte ich vielleicht noch Jahre in Liverpool gespielt. Ich hätte damals psychologische Hilfe gebraucht, aber auf den Trichter bin ich nicht gekommen. Ich kann mich glücklich schätzen, dass es mir jetzt so gut geht und alles seinen guten Gang genommen hat.
Sie haben eine Tätowierung der Heiligen Jungfrau Maria auf Ihrem rechten Oberarm. Sind Sie nach den schlechten Monaten mal in den Gnadenort Altötting, zur Schwarzen Madonna, gepilgert?
Nein, bin ich nicht. Mir gefallen so alte Gemälde, kirchliche Bilder. Sie schauen schön aus, finde ich, ohne dass ich großartig religiös bin. Ich versuche von mir aus, anständig und verantwortungsbewusst zu sein. Ich brauche niemanden, der mir das vorpredigt.
Anmerkung der Redaktion: Suizidgedanken sind häufig eine Folge psychischer Erkrankungen. Letztere können mit professioneller Hilfe gelindert und geheilt werden. Wer Hilfe sucht, auch als Angehöriger, findet sie bei der Telefonseelsorge: 0800–111 0 111 und 0800–111 0 222. Die Berater sind rund um die Uhr erreichbar, jeder Anruf ist kostenlos.