Lucio: Wissen, wann Schluss ist
Der verletzte Verteidiger bleibt fünf Minuten zu lange auf dem Platz - Klinsmann lässt ihn. Das hat fatale Folgen.
WOLFSBURG Lucio hatte keinen guten Tag. Für die brasilianische Nationalmannschaft, deren Kapitän er ist, war er mal wieder um die halbe Welt gejettet, hatte erst am Vortag die Uhr umgestellt. Gegen Wolfsburg geriet er früh mit Schiedsrichter Thorsten Kinhöfer aneinander. Ein Gegenspieler war ihm auf den Fuß gestiegen, und Lucio gestikulierte mit diesem unwirschen Lucio-Gesicht und erhobenem Arm Richtung Kinhöfer. Später kamen sie sich noch näher: Dzeko hatte Lucio gefoult, dieser blieb am Boden. Kein Doktor kam. Dafür Kinhöfer, mit der gelben Karte für Lucio. Erst dann wurde er an der Linie behandelt. Kam zurück. Grollend. Kein guter Tag.
Er wurde noch schlimmer. Nach einer Stunde griff sich Lucio an die Leiste. Schmerzverzerrtes Gesicht. Humpeln. Stehenbleiben. Das Auswechsel-Zeichen zu Mark van Bommel. Es passiert: nichts. Kein Wechsel. Kein Ball auf die Tribüne. Keine Behandlung. Kein Klinsmann an der Seitenlinie. Nichts. Nur ein Wolfsburger Angriff über links, dem Lucio schon nicht mehr richtig folgen kann und der zum 1:2 führt. Grollen. Immer noch kein Wechsel. Dann Ecke für Bayern. Lucio humpelt vor. Benaglio fängt die Ecke ab, leitet den Gegenzug ein. Lucio humpelt zurück, Gegenspieler Dzeko trifft 50 Meter weiter vorn zum 1:3. Erst jetzt: der Wechsel. Ottl kommt. Da war die Niederlage längst besiegelt. Die Meisterschaft womöglich auch.
Angesprochen auf die unverständliche Langsamkeit des Wechsels sagte Jürgen Klinsmann später: „Mark van Bommel hat uns den Wechsel angezeigt. Wir haben dann sofort den Andi Ottl hergerufen." Dieses Sofort dauerte fünf Minuten. In denen sich das Spiel entschied. Man müsse sich halt auch auf seine Spieler verlassen können, versuchte Klinsmann noch zu erklären, doch überzeugend klang das nicht. Natürlich lässt sich Lucio fast lieber eine Fingerkuppe abhacken als sich auswechseln. Doch wenn er selbst das Zeichen gibt, geht es wirklich nicht mehr. Dann muss ein Innenverteidiger raus, und zwar schnell.
All das sahen nicht nur die Laien auf der Tribüne, sondern auch ehemalige Profis wie Karl-Heinz Rummenigge und Uli Hoeneß. Doch keiner wollte Stellung nehmen. Von Hoeneß blieben an diesem Samstag in Wolfsburg nur Bilder mit erfrorenen Gesichtsausdruck nach den diversen Gegentore, von Rummenigge und Bayern-Vize Hopfner nach dem Schlusspfiff das Bild vom Gang Richtung Kabine. Offizielle Statements: null. Nur einer musste vor der Presse den Kopf hinhalten: Jürgen Klinsmann.
Auch am Tag danach war die Verwirrung noch greifbar. Die Beteiligten Klinsmann und van Bommel waren sich uneins, ob man nach dem 1:2 oder erst nach dem 1:3 wechseln wollte.
Thomas Becker