Kontrolle war gestern

Los! Nach vorne! Angreifen! Trainer Klinsmann treibt die Bayern dort an, wo Vorgänger Hitzfeld eher gebremst hat. So ist das Spiel zum Spektakel geworden – aber nicht immer effektiv genug.
von  Abendzeitung
Emotionsbolzen an der Seitenlinie: Bayern-Trainer Jürgen Klinsmann.
Emotionsbolzen an der Seitenlinie: Bayern-Trainer Jürgen Klinsmann. © dpa

Los! Nach vorne! Angreifen! Trainer Klinsmann treibt die Bayern dort an, wo Vorgänger Hitzfeld eher gebremst hat. So ist das Spiel zum Spektakel geworden – aber nicht immer effektiv genug.

MÜNCHEN Man nehme diese eine Szene – und weiß Bescheid. Es ist dieser Moment, der ganz genau zeigt, wie die Bayern 2009 ticken. Wie die Klinsmann-Bayern mittlerweile funktionieren.

Darum geht es: Im zweiten Nachfassen, sprich Nachschuss, erzielte Miroslav Klose am Samstag in der 61. Minute bei Hertha BSC das 1:1. Eine halbe Stunde vor Schluss! Bei Hertha BSC, beim damals Tabellenzweiten! Und was macht Klose? Jubelt kurz, nimmt den Ball in die Arme und rennt damit zum Anstoßpunkt. Nur 1:1! Weiter, weiter! Wir müssen nach vorne! Gewinnen! Gewinnen!

Das ist der Klinsmann-Stil. Er lebt ihn vor. Ein Springinsfeld beim Jubeln. Er geht aus sich raus, das ist gut. Er lebt mit, das ist gut. Und nach Toren rudert er mit den Armen: in Richtung gegnerisches Tor. Weiter mit Sturm & Drang, auf zum Siegtor, Männer – das ist nicht immer gut.

„Mit Klinsmann kam ein neuer Trainer, mit einer neuen Philosophie, die alles in Frage stellte“, sagte Philipp Lahm, einer, der sich viele Gedanken macht über Systeme und Aufstellungen. Und dieser Mitdenker formuliert vorsichtig, er sagte: „Klinsmann ist ein – in Anführungszeichen – radikaler Trainer.“ So spielen die Bayern 2009 – radikal. Gewinnen oder verlieren. Unentschieden? Ach, was.

Letzte Saison hätte das ganz anders ausgesehen. Ein 1:1 beim Zweiten, dazu auswärts, bedeutete: Ruhig, Männer, erstmal Ruhe reinbringen. Punkt sichern, mal abwarten. Vielleicht machen wir noch das Siegtor, vielleicht. Ein Punkt ist auch gut. In solchen Momenten war es Ottmar Hitzfeld, der vor der Trainerbank kurz die Fäuste anhob, dann mit zwei flachen Händen Richtung Boden deutete: Ruhig, Männer.

Zwei Welten. Spektakel steht Kontrolle gegenüber, Offensiv-Sucht dem Ergebnisfußball.

Für die Bayern-Profis war dies die größte Umstellung. Ein Gewöhnungsprozess, der im Spätherbst dank der Siegesserie beendet schien. Ist er aber nicht. Klinsmann wirkt. Nicht alle sind mit seiner Spielidee, mit seinem Adrenalin-Fußball einverstanden. Mark van Bommel nicht, der Kapitän. So kam es zu Meinungsverschiedenheiten. Weil van Bommel, der Defensivstabilisator vor der Abwehr, nur noch Mitspieler um sich hatte, die von der Bank aus angetrieben, nach vorne rannten. Überhaupt: Die Bayern sind stürmischer als unter Hitzfeld. Lucio darf über die Mittellinie strawanzen, die Flügel wurden gestärkt, die Außenverteidiger sollen marschieren, Zé Roberto schießt plötzlich Tore im Strafraum, Franck Ribéry ist dritter Stürmer, ein klassischer Linksaußen. Unter Hitzfeld war Positionhalten angesagt, für Lucio wurde ein imaginärer Mittellinien-Zaun aufgebaut, Ribéry musste sogar mal nach hinten schauen.

Nun wird gestürmt, auf Sieg komm’ raus. Die Fans freut’s. Spektakel ist geboten, für Unterhaltung gesorgt. Vor allem bei Heimspielen. Nach neun Partien in der Allianz Arena lautet die Torbilanz 27:17. Was Präsident Franz Beckenbauer als „Beleidigung für die Fans“ deklarierte. Klar, Beckenbauer, selbst er, der Kunstvollste von allen, steht für Kontroll-Fußball, für den Ergebnis-Fußball der 70er. Für die Tradition des FC Bayern.

Klinsmann will mit der Tradition brechen. Auch dieser Weg kann zum Erfolg führen. Sicherlich. „Jürgen hat alle Erwartungen, die wir an ihn hatten erfüllt“, sagte Hoeneß der „Berliner Zeitung, „seine Neuerungen greifen: Die Fitness ist sehr gut, wir spielen attraktiven Fußball.“ Und verlieren: wie in Hamburg, wie in Berlin. Weil die Gegner den Offensiv-Stil durchschaut haben? Hoeneß sagt auch: „Die haben jetzt eine Taktik entdeckt. Mit zehn Mann hinten drin und einer vorne.“ Die Hertha hat’s gezeigt, der HSV zuvor auch. Und die nächsten Gegner drücken auf Wiedervorlage.

Patrick Strasser

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