Klinsmann: Der Reformierte

Bayern-Trainer Jürgen Klinsmann hat sich wandeln müssen. Statt um Visionen geht es nun um seinen Job.
MÜNCHEN Jürgen Klinsmann teilt seine Mitmenschen gerne in Kategorien ein. Menschen, sprich Profis, mit denen er es zu tun hat, nennt er gerne „Geber“. Häufig benutzt er diese Vokabel, wenn er ausdrücken will, dass sich einer voll und ganz für den Verein, für die Mannschaft einsetzt, keinen Egoismus an den Tag legt.
Also muss er viele Nicht-Geber am Samstag beim 1:5 in Wolfsburg ausgemacht haben, viele Nichts-Zurück-Geber.
Das hat er satt. Sich selbst sieht er natürlich als Geber, als Mehr-als-100-Prozent-Geber. „Ich habe zehn Monate den Kopf hingehalten, aber jeder Spieler muss selbst durch die Tür gehen, die wir ihm öffnen“, beklagte sich Klinsmann am Sonntag. Ganz neue Töne, vom ganz neuen Klinsmann.
„Ich konnte seinen Richtungswechsel nachvollziehen“, sagte Vorstandsboss Karl-Heinz Rummenigge bei „Premiere“. „Wir unterstützen Jürgen in dieser Richtung. Es war sehr klug von ihm, den Druck auf die Mannschaft weiterzugeben. Die Mannschaft muss wissen, dass Jürgen kein Blitzableiter ist.“
Nun, im zehnten Monat seiner Amtszeit beim FC Bayern. Klinsmann, im Juli 2008 mit vielen Ideen und Visionen als Reformer angetreten, befindet sich längst in Phase drei. Nach und nach wurde er umgedreht – nun ist der 44-Jährige der Reformierte.
Phase eins: Im Herbst spürten die Bosse, dass Klinsmann überambitioniert handelt, sich keine Ruhepausen gönnt, sich verrannte. „Ich hab ihm geraten, mal ein, zwei Stunden weniger an der Säbener Straße zu sein“, sagte Manager Uli Hoeneß damals, „Jürgen ist zu engagiert. Er will alles auf einmal schaffen. Ich sag’ ihm immer: Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden.“ Klinsmann kann nicht anders. Er kann nur wie Klinsmann – schon hatten seine Segel weniger Wind.
Phase zwei: Im Frühjahr, nach den Niederlagen in Hamburg, in Berlin und gegen Köln, rumorte es in der Mannschaft. Zu mehr Vorsicht und einer defensiveren Spielweise rieten Miroslav Klose und Philipp Lahm dem Coach öffentlich. Man setzte sich zusammen, plötzlich wurde im besten Ottmar-Hitzfeld-Stil mit kontrollierterer Offensive gespielt. Und gewonnen. Auch die von Klinsmann enthusiastisch angebotenen Tools wie Sprachkurse oder Yoga-Übungen im Leistungszentrum wurden reduziert und mittlerweile beinahe ganz eingestellt. Weil es heißt: Es zähle nur noch die punktgenaue Konzentration aufs Wesentliche: Training und Spiel.
Phase drei: Nun, nach dem 1:5 in Wolfsburg, hat Klinsmann sich geändert. Und zwar seinen Kurs, sich ständig vor die Spieler zu stellen. Nicht nur das: Auch die Zielsetzung ist plötzlich eine andere. Er sah es als seine persönliche Aufgabe an, die „Mannschaft wieder an die europäische Spitze“ heranzuführen, in der Champions League wollte er ins Finale. Doch nun, da im Alltagsgeschäft Bundesliga wieder Rang vier und damit ein Strafjahr im Uefa-Cup droht, korrigiert sich Klinsmann: „Die Liga ist immer die Basis, es ist für den FC Bayern essentiell die Champions League zu erreichen.“ Er selbst erinnerte an Felix Magath, dem die Aussicht auf den Uefa-Cup Anfang 2007 den Job kostete.
Nun also geht es Klinsmann weniger um Visionen als viel mehr um den Job, der bei weiteren Bundesligapleiten gefährdet sein könnte.
Gegen Barcelona aber hilft Klinsmann wohl nur ein Wunder. „In Bern stand 1954 eine Mannschaft auf dem Platz, die vorher acht Stück bekommen hat und ist trotzdem Weltmeister geworden“, erinnerte Rummenigge an das „Wunder von Bern“, das 3:2 im Finale gegen Ungarn. Eben: Elf Geber müsst ihr sein.
Patrick Strasser