Klinsmann dämmert’s
Nach der 1:5-Blamage von Wolfsburg geht der Trainer erstmals auf Distanz zur Mannschaft und erinnert an Magaths Rauswurf vor zwei Jahren. „Die Zukunft des FC Bayern steht auf dem Spiel“.
MÜNCHEN Der eine Jürgen Klinsmann war in Wolfsburg geblieben. Der Klinsmann, der direkt nach dem 1:5 beim VfL, der höchsten Bundesliga-Niederlage seit Januar 2002, der sechsten Pleite in dieser Saison und der verheerendsten Viertelstunde seit Vereinsgedenken (vier Gegentreffer in 15 Minuten) sein Standardprogramm während der Medienrunde abgespult hatte.
Wie nicht anders zu erwarten, klang das am Samstagnachmittag so: Das 1:5 sei „ein herber Rückschlag“, man habe sich das „anders vorgestellt“. Ach was. Man habe „viele individuelle Fehler“, sogar die Todsünde „Fehlerketten“ gemacht und müsse „die Dinge nun aufarbeiten“.
Machte Klinsmann auch. Nachts, im eigenen Hause. „Ich habe das Spiel noch einmal angeschaut“, erzählte Klinsmann am Sonntagmittag auf dem Trainingsgelände, „ich habe die Tore jetzt zig Mal gesehen, habe immer wieder hin- und hergespult.“ Und sich selbst auf Neustart. Tags darauf war er ein anderer Jürgen Klinsmann. Einer, der nicht nur von der Mannschaft, sondern auch von sich selbst und seinen Prinzipien, ja seiner Philosophie abweicht.
"Da ist eine Wut, die in mir kocht"
Der Auslöser muss das 1:5 gewesen sein. Dieses krasse 1:5 gegen einen direkten Konkurrenten um den Titel, wobei Klinsmann von Trainer Felix Magath, einem – noch schlimmer – ehemaligen Bayern-Trainer vorgeführt wurde, auch in taktischen Belangen. In einer Saison, in der es konstant auf Achterbahnfahrten ging. Auf ein Mini-Hoch folgte eine Mega-Blamage, danach meist ein hoher Sieg. Auf und ab. Vor und zurück. Mal 7:1, mal 1:5. Wolfsburg aber war anders, anders als etwa das 2:4 im Pokal in Leverkusen. „Da ist eine Enttäuschung da“, sagte Klinsmann, „eine Wut, die in mir kocht“.
Und erstmals ließ er sie raus. Er, der andere Klinsmann. In der Kabine hielt er eine Ansprache, die sonst übliche Diskussion im Anschluss blieb aus. Erstmals stellte er sich nicht mehr vor die Mannschaft, erstmals verabschiedete er sich von der Idee „One team, one spirit“. Das „Wir“ war einmal. „Ich habe zehn Monate den Kopf hingehalten, jetzt sind die Spieler dran“, sagte Klinsmann und schaute die Medienvertreter dabei an, als suche er ein Kopfnicken zur Bestätigung. „Ich verlange, dass sie sich zusammenreißen für den FC Bayern, dass sie sich aufopfern.“ Er drohte mit Konsequenzen, fordert einen „Denkprozess“. Hier der Trainer, dort die Mannschaft.
Die Mannschaft teilt nicht Klinsmanns Besessenheit
Klinsmann geht davon aus, dass er samt Trainerstab alles tut. Alles, was in ihren Möglichkeiten steht. Und das vermisst er bei der Mannschaft, sie teilt nicht seine Besessenheit, seine Akribie – für ihn bedeutet das: Sie lässt ihn im Stich, er dringt nicht durch. Auch als Vereinstrainer-Novize weiß er: Das Opfer aber würde nur er sein. Selbst einen Präzedenzfall hatte er parat: „Vor zwei Jahren wurde man Vierter, das hat Felix Magath den Job gekostet.“ 2006 gewann Magath das Double, 2007 wurde Bayern Vierter. 2008 gewann Hitzfeld das Double. Klinsmann will nun nicht Vierter, also Uefa-Cup-Teilnehmer, werden. Daran hängt sein Job.
Nicht am FC Barcelona, dem Champions-League-Gegner im Viertelfinalhinspiel am Mittwoch. Vor Barca habe er „weniger Bammel als vor Frankfurt“, meinte Klinsmann. Sein Vorwurf: Die Mannschaft vernachlässige das Alltagsgeschäft. „Mir ist wichtig, dass jeder begreift, was auf dem Spiel steht: Das Jahr 2009 des FC Bayern, die Zukunft des FC Bayern!“ Und seine. Er hat es begriffen. Ihm dämmert’s.
Patrick Strasser