Karl-Heinz Rummenigge exklusiv: "Es ist ein guter Moment, um loszulassen"

München - AZ-Interview mit Karl-Heinz Rummenigge: Der ehemalige Weltklasse-Stürmer (65) geht in sein letztes Jahr als Vorstandsvorsitzender des FC Bayern.
AZ: Herr Rummenigge, Hansi Flick hat dem FC Bayern nach 2013 das zweite Triple beschert. Wie schafft er es, dass ihm die Mannschaft auch nach den großen Erfolgen weiter bedingungslos folgt und nie satt wird?
KARL-HEINZ RUMMENIGGE: Hansi lässt keine Sättigung zu. Jeder Spieler, aber auch jeder Mitarbeiter beim FC Bayern weiß, dass er seinen Wert für den Klub jeden Tag unter Beweis stellen muss, wenn er zur Arbeit kommt. Das gilt insbesondere für die Mannschaft. Wir können ja nicht sagen, nachdem wir fünf Titel gewonnen haben: Jetzt machen wir mal ein Jahr Pause. Erst recht in Zeiten von Corona ist das nicht möglich. Beim FC Bayern darf man nie sagen, dass man zufrieden oder satt ist und erst mal halblang macht. Es ist wichtig, dass jeder Spieler bei jedem Training und jedem Spiel mit der Motivation antritt, zu gewinnen und natürlich auch Titel zu holen.
Rummenigge über Hansi Flick: "Das war ein Volltreffer!"
War die Entscheidung, Flick langfristig zum Cheftrainer zu ernennen, eine der besten Ihrer Karriere?
An besagtem Sonntag im November 2019 haben wir gemeinsam entschieden, dass wir uns von Niko Kovac trennen, weil wir den Eindruck hatten, dass es nicht mehr funktioniert. Deshalb mussten wir reagieren. Dann haben wir Hansi nominiert, was letztlich auch eine glückliche Fügung war. Wenn du den zweiten Mann zum ersten Mann auf der Trainerbank machst und es funktioniert so gut wie bei uns mit Hansi, kann man ja nur sagen: Das war ein Volltreffer!
"Diese Mannschaft ist extrem erfolgreich"
Mit der Klub-WM könnte im Februar noch ein sechster Titel für den FC Bayern hinzukommen. Wo ordnen Sie Flicks Mannschaft im historischen Vergleich des Klubs ein?
Es war ein großer Wunsch des Trainers und der Mannschaft, dass die Klub-WM gespielt wird. Ursprünglich war das wegen der Corona-Pandemie gar nicht unbedingt vorgesehen. Ich habe mich bei Fifa-Präsident Gianni Infantino sehr dafür eingesetzt, dass sie doch ausgetragen wird. Glücklicherweise soll das Turnier nun vom ersten bis elften Februar stattfinden. Unser Team ist heiß und will auch diesen Titel gewinnen.
Es wäre der sechste Titel - das hat bislang nur der FC Barcelona im Jahr 2009 mit Pep Guardiola geschafft. Diese Chance haben wir jetzt, und die wollen wir nutzen. Was den zweiten Teil Ihrer Frage betrifft: Der FC Bayern ist 120 Jahre alt. Ich habe zwar nicht alle 120 Jahre miterlebt, aber doch eine recht lange Zeit, fast 45 Jahre. Und ich muss sagen: Diese Mannschaft ist extrem erfolgreich, extrem charakterstark, und sie spielt einen wunderbaren Fußball. Ich hoffe, die Helden aus den 1970er Jahren, die von Anfang der 2000er und auch die vom Triple 2013 sind mir nicht böse, wenn ich sage: Die aktuelle Mannschaft spielt einen Fußball, der ohne jeden Zweifel Maßstäbe setzt.
Woher kommt dieser große Zusammenhalt innerhalb des Teams?
Man hat beim Champions-League-Turnier in Lissabon gemerkt, dass ein unglaublicher Wille und Charakter da war - neben der individuellen und mannschaftlichen Qualität. Die Mannschaft wollte unbedingt, es galt der alte Sepp-Herberger-Spruch: Einer für alle, alle für einen! Ich habe die gesamte Zeit mit der Mannschaft im Hotel gewohnt und immer diese positive Stimmung gespürt. Da war mir klar: Diese Mannschaft ist in der Lage, den Titel, dem wir ja immer hinterhergejagt sind, zu gewinnen. Das war ein wunderbares Erlebnis, obwohl wir leider keine Zuschauer im Stadion haben durften. Ich bin sehr glücklich und froh, dass ich dabei war.
Karl-Heinz Rummenigge stolz auf Triple-Triumph des FC Bayern
Für Sie war es nach 2013 der zweite Triple-Triumph als Vorstandsvorsitzender. Werden Sie sich an Heiligabend in diesem Jahr etwas Besonderes gönnen?
Wir beim FC Bayern haben nach dem Finalsieg gegen Paris alle einen kleinen Champions-League-Pokal geschenkt bekommen. Ich werde meine Frau bitten, dass sie diesen Pokal ausnahmsweise auf den Weihnachtstisch stellt neben die andere Weihnachtsdekoration. Es ist ein außergewöhnlicher Titel, der wichtigste Pokal und zugleich der, der im Weltfußball am schwierigsten zu gewinnen ist. Wenn du ihn dann gewonnen hast und dazu noch in dieser Art und Weise wie wir, dann darf die Mannschaft, der Trainer und der gesamte Klub stolz sein.
Neben all diesen Triumphen: Wie schmerzhaft war das Jahr 2020 aufgrund der Coronavirus-Pandemie für den FC Bayern?
Wir hatten jetzt rund zehn Monate keine Zuschauer mehr im Stadion, am 8. März im Heimspiel gegen Augsburg war dies zuletzt der Fall. Natürlich hat die Pandemie finanzielle Auswirkungen, bei 15 bis 20 Heimspielen ohne Zuschauer entsteht ein großer finanzieller Schaden. Der größere Schaden ist aber die Abwesenheit von Atmosphäre und Emotion. Fußball ohne Fans macht einfach weniger Spaß. Wir sitzen im Stadion mit 15 Leuten, das ist schon eine traurige Veranstaltung. Ich bewundere die Spieler, wie sie weiter mit großer Motivation und Engagement ihre Spiele bestreiten. Alle Messungen haben ergeben, dass die Laufleistung genauso hoch ist, teils sogar höher als vor der Corona-Zeit. Da kann man nur den Hut vor den Spielern ziehen.
Auch für Anfang 2021 ist noch keine Rückkehr der Fans absehbar. Was kommt im nächsten Jahr auf den Fußball zu - auch, was die Finanzen betrifft?
Seriöse Prognosen sind schwierig. Was ich sagen kann: Wir planen sehr vorsichtig, das ist unsere Aufgabe im Vorstand. Ich wünsche mir, dass irgendwann im Frühjahr wieder Fans ins Stadion kommen dürfen - sicher nicht zu hundert Prozent, aber zu einer gewissen Prozentzahl. Aber da gibt es noch große Fragezeichen. Es wäre sehr schön, wenn wir auch in unserer Allianz Arena mal wieder Zuschauer begrüßen dürften.
"Die Transfersummen sind im Sommertransferfenster halbiert worden"
Ist der FC Bayern denn finanziell in der Lage, im nächsten Sommer ähnlich einzukaufen wie in den vergangenen Jahren?
In der Saison 2019/20 sind wir auch durch die großen Erfolge unserer Mannschaft noch mit einem blauen Auge davongekommen. In dieser Saison trifft es den FC Bayern aber mit voller Härte - genauso wie den gesamten Fußball, ja die gesamte Welt. Es gibt keinen Bereich der Gesellschaft, der von Corona verschont wird. Wir werden im nächsten Sommer mit großer Wahrscheinlichkeit nicht die Transfers tätigen können, die vor der Corona-Zeit noch möglich waren.
Hat diese Entwicklung auch Einfluss auf Vertragsverlängerungen mit Spielern?
Wir müssen da mit hoher Sensibilität herangehen. Wir haben Spieler, mit denen wir sehr zufrieden sind und grundsätzlich auch gern verlängern wollen. Gleichzeitig müssen wir der aktuellen Situation natürlich Rechnung tragen. Was auffällt, ist: Die Transfersummen sind im Sommertransferfenster ungefähr halbiert worden, bei den Gehältern im Topbereich scheint eine ähnliche Entwicklung erst zeitverzögert stattzufinden. Da müssen und werden wir mit Augenmaß fahren. Speziell für Hasan Salihamidzic wird es eine anspruchsvolle Aufgabe im Sommer 2021 werden, den Kader qualitativ zusammenzustellen.
Die Verträge von Niklas Süle und Leon Goretzka laufen im Sommer 2022 aus. Wann beginnen die Verhandlungen?
Ich bitte um Verständnis, dass ich zu dem Thema keine Kommentare abgeben möchte. Wir sind gut beraten, Gespräche zu führen - aber nicht öffentlich Wasserstandsmeldungen abzugeben. Das ist nicht hilfreich.
Planen Sie in Zukunft denn fest mit Süle und Goretzka?
Wenn wir eine Einigung erzielen - gerne.
Werden David Alaba und Jérome Boateng doch noch verlängern?
Wie hoch sind die Chancen, dass David Alaba und Jérome Boateng, deren Verträge im Sommer auslaufen, doch noch beim FC Bayern verlängern?
Beim Thema Alaba hat unser Präsident Herbert Hainer alles erklärt: Wir haben unser Angebot zurückgezogen, nachdem es von Alabas Seite nicht angenommen wurde. Alaba ist natürlich ein guter Spieler, der beim FC Bayern groß geworden ist.
Und bei Boateng?
Man wird sich irgendwann in den kommenden Monaten zusammensetzen und dann eine Entscheidung fällen, ohne Eile.
Wird Joshua Kimmich in der Zeit nach Manuel Neuer und Thomas Müller Bayern-Kapitän?
Ich finde seine Entwicklung auf und neben dem Platz wirklich sehr positiv. Er ist nach wie vor ein junger Spieler, hat aber dennoch in der Corona-Zeit viel Verantwortung übernommen - etwa mit seiner Kampagne "We kick Corona", die er gemeinsam mit Leon Goretzka initiiert hat. Das sind alles Dinge, die ihn für das Amt als Kapitän prädestinieren. Ich hoffe, dass er lange beim FC Bayern bleibt. Er ist ein wichtiger Spieler, das haben wir nicht nur in den vergangenen Wochen gesehen, in denen er verletzt fehlte, sondern auch schon davor. In dieser Achse von Manuel Neuer im Tor bis zu Robert Lewandowski im Sturm nimmt er einen ganz wichtigen Part ein.
"Die Herausforderungen werden sicher nicht kleiner"
Wie bewerten Sie die Entwicklung von Jamal Musiala?
Ich bin begeistert von dem Jungen. Er ist 17 Jahre alt und spielt beim Champions-League-Sieger regelmäßig eine gute Rolle. Er kam beim 3:3 gegen RB Leipzig rein und hat das Spiel sofort in unsere Richtung gelenkt. Er ist ein Spieler mit großen Talenten, und ich wünsche mir, dass er da weitermacht. Wenn er den Anspruch hat, sich ständig zu verbessern, wird er beim FC Bayern eine positive Zukunft haben.
Wann bekommt Musiala denn einen Profivertrag?
Gehen Sie mal davon aus, dass Hasan Salihamidzic in dieser Richtung aktiv sein wird.
Wie sehen Sie den FC Bayern in der Führungsetage aufgestellt, wenn Sie sich Ende 2021 als Vorstandschef zurückziehen?
Es war das große Ziel des FC Bayern, für die Zeit nach Uli Hoeneß und mir eine Lösung zu finden. Die ist jetzt gefunden mit Herbert Hainer, Oliver Kahn und Hasan Salihamidzic. Ich denke, dass der Verein damit für die Zukunft gut aufgestellt ist. Uli ist im Aufsichtsrat noch aktiv dabei, und ich auch noch ein Jahr. Du musst bereit sein, irgendwann loszulassen und anderen den Staffelstab zu übergeben und sagen: 'Ab jetzt bist du verantwortlich.' Es wird positiv weitergehen. Oliver hat auf höchstem Niveau Fußball gespielt und verfügt über ein großes Knowhow. Auch Hasan hat eine sehr gute Entwicklung genommen. Die Herausforderungen werden sicher nicht kleiner, und es wird auch eine große Aufgabe, die Tradition aufrechtzuerhalten, die den FC Bayern immer ausgezeichnet hat.
"Der Fußball war im wahrsten Sinne des Wortes mein Leben"
Wären weitere Ex-Spieler wie Bastian Schweinsteiger hilfreich, um diese Tradition zu bewahren?
Bastian war ein wichtiger Spieler, er ist ein wunderbarer Mensch. Aber seine Wohnorte liegen gar nicht in Deutschland. Ich tausche mich hin und wieder mit ihm aus und ich habe nicht den Eindruck, dass er aktuell eine aktive Rolle beim FC Bayern anstrebt.
Was machen Sie eigentlich, wenn im Dezember 2021 Ihre Zeit beim FC Bayern endet?
Ganz ehrlich: Was ich am 1. Januar 2022 machen werde, weiß ich jetzt noch nicht. Ich habe in meiner aktiven Fußballerkarriere einige Zeit in Italien gespielt und lebe seitdem im Hier und Jetzt. Das ist spannender, als sich ständig mit Karriereplänen und der Zukunft zu beschäftigen. Mein letzter Tag wird nächstes Jahr im Dezember sein, in genau einem Jahr. Ich bin dann 66 Jahre alt, da gibt es ja diesen berühmten Song, dass das Leben dann erst anfängt. Es ist ein guter Moment, um loszulassen und an Oliver Kahn zu übergeben.
Ist es vorstellbar, dass Sie sich komplett aus dem Fußball zurückziehen?
Das schließe ich nicht aus. Der Fußball war im wahrsten Sinne des Wortes mein Leben, erst auf dem Platz, dann außerhalb. Ich werde den Fußball sicher weiter beobachten und dem FC Bayern als Fan verbunden bleiben. Alles weitere: Schaun mer mal.(lächelt)
Was werden Sie am meisten vermissen?
Am meisten habe ich es immer vermisst, Spieler auf dem Platz zu sein. Da wird alles entschieden, das war die größte Freude meines Lebens. Wenn man auf dem Platz steht und ein Tor schießt, ist das eine Explosion. Ich wusste an dem Tag, als ich meine aktive Karriere beendet habe, dass das Schönste am Fußball für mich beendet ist. Ich hatte das große Glück, dass ich noch eine zweite Karriere im Fußball haben durfte mit vielen Erfolgen. Doch das Beste am Fußball war und ist es, selbst auf dem Platz zu stehen.