„Gebt Klinsmann Zeit!“
Beim zweiten Paulaner Fan-Stammtisch diskutierten elf Bayern-Anhänger mit Paul Breitner und den AZ-Sportreportern . Der Vorstandsberater verteidigt die Methoden des neuen Trainers.
MÜNCHEN 100 Tage ist Jürgen Klinsmann jetzt im Amt, Zeit für eine Bilanz. Zum Beispiel beim 2. Paulaner Fan-Stammtisch der AZ im Paulaner Bräuhaus am Kapuzinerplatz. Gast der von AZ-Sportchef Gunnar Jans und Bayern-Reporter Patrick Strasser moderierten Runde unter dem Motto „11 Rote müsst ihr sein“ war Paul Breitner, der Vorstandsberater des FC Bayern.
AZ: Herr Breitner, wie sehen Sie die ersten 100 Tage Klinsmann?
PAUL BREITNER (54, Berater des Vorstands FC Bayern): Ich hatte nach dem Sieg in Bukarest (1:0, d. Red.) das Gefühl der FC Bayern hat mit einem überragenden Spiel die Weltmeisterschaft gewonnen. Jürgen Klinsmann hat ins Volle getroffen und ist angekommen. Er ist der Triumphator - so war die Stimmung in der Öffentlichkeit. Und jetzt nachdem erste Spiele verloren wurden, wird plötzlich alles in Frage gestellt. Da krieg ich einen Vogel. Hat jemand vergessen, dass es Niederlagen wie die gegen Bremen (2:5, d. Red.) immer schon gab? Es gab sie sogar mit Beckenbauer und Müller.
Die Frage ist doch: Wie kommt Jürgen Klinsmann bei der Mannschaft an, wie greift seine Arbeit, wie greifen seine Maßnahmen? Also die Frage in die Runde: Wie ist Ihre Meinung?
BREITNER: Die Spieler sind begeistert von der Arbeit von Jürgen Klinsmann, von der Arbeit, die das ganze Trainer-Team macht. Seine positive Art wird begeistert aufgenommen. Die Neuerungen sind klasse. Wir haben jetzt mit Jürgen Klinsmann einen Schritt nach vorne gemacht, den andere Fußballnationen schon vor zig Jahren gemacht haben. Diesen großen Betreuerstab, den wir heuer haben, davon rede ich seit 30 Jahren - endlich hat das Klinsmann beim FC Bayern eingeführt. Du darfst halt einen Verteidiger nicht ständig das gleiche machen lassen wie einen Stürmer oder Mittelfeldspieler.
HELMUT FABER: Ich arbeite selber beim Bayrischen Fußballverband im Nachwuchsbereich und eins nervt mich schon seit langem, auch schon vor Klinsmann: Standardsituationen sind eine Katastrophe, da kannst du den Fernseher ausschalten.
BREITNER: Ja, was glauben sie, was Bundesligamannschaften jeden Tag üben? Natürlich üben die auch Standardsituationen. Wenn drei, vier oder fünf Freistöße im Spiel nicht ankommen oder Eckbälle zu kurz, dann schaut das blöd aus. Herrschaften, glaubt's mir eins: Auch Klinsmann lässt das genug üben.
STEFAN KRAMMER: Wir sprechen doch über die Klinsmann-Bilanz. Das größere Problem für mich liegt darin, dass die Mannschaft seit dieser Saison so leblos rüberkommt. Ich habe es selten gesehen, dass sie unbedingt ein Spiel umbiegen wollen, die spielen dann meistens so emotionslos weiter. Das macht mir Angst.
FRITZ SEDLMAIR: Ich gebe Ihnen zu 90 Prozent Recht, Herr Breitner. Du brauchst heute ein großes Trainerteam und einen Mentaltrainer. Den Fußballern musst du nicht mehr das Spielen beibringen, du musst sie im Kopf frei kriegen. Warum gibt Klinsmann Toni nicht mal eine schöpferische Pause?
BREITNER: Bei der EM haben ihm die Mitspieler der italienischen Nationalelf ihm den Ball einfach nach vorne gehauen und gesagt: „Mach Luca, viel Glück!" Luca kam zutiefst enttäuscht zurück von der EM und musste das verarbeiten. Klinsmann macht es richtig - oder meint ihr Toni verarbeitet das auf der Tribüne? Wenn ich ihm das Vertrauen entziehe, verunsichere ich ihn dadurch.
HANS GROHE: Wie groß ist der Druck auf Klinsmann?
BREITNER: Gleich groß wie bei Magath oder bei Hitzfeld. Die Vorgabe ist: Deutscher Meister werden und möglichst weit in der Champions League kommen. Das ist der Druck auf jeden Trainer, nicht nur auf Klinsmann. Die Leistung zählt. Du bekommst heute nicht mehr die Zeit, ein, zwei junge Spieler mitzuschleppen wie Uli oder mich damals, die sich in Ruhe ein Jahr entwickeln können. Gebt Klinsmann und der Mannschaft doch die nötige Zeit.
AZ: Ein Spieler, über den diskutiert worden ist in den letzten Wochen ist Mark van Bommel, der Kapitän. Sie waren ja selber lange genug Kapitän. Muss ein Kapitän nicht gestärkt werden, muss er nicht immer spielen?
BREITNER: Unabhängig von Mark van Bommel: Nein, überhaupt nicht. Nur, weil einer Kapitän ist, muss doch der nicht spielen, wenn der Trainer sagt: ,Ich habe auf der Position gerade einen Besseren.' Dann nutzt mir doch ein Kapitän nichts. Die Mannschaft will doch gewinnen und fordert dann auch, dass der Bessere die Chance bekommt zu spielen.
ROLAND BETZ: Und was ist mit der Hierarchie? Klinsmann ist noch auf der Suche.
BREITNER: Jede Mannschaft sucht sich ihre eigene Hackordnung und die hat in vielen Fällen überhaupt nichts mit der Binde zu tun. In der Nationalmannschaft wird automatisch derjenige Kapitän, der die meisten Spiele hat. Aus, basta, bumm. Der eigentliche Kapitän auf dem Platz ist oft ein anderer, der die Binde nicht hat. In den 90er Jahren war zum Beispiel Jan Wouters der Kopf der Mannschaft, obwohl er nicht Kapitän war.
JARASCH: Aber ist der FC Bayern der richtige Verein für den ersten Trainerposten für einen jungen Trainer? Ich bin da sehr überrascht. Warum brauchen wir einen Trainer, der das zum ersten Mal macht mit den ganzen Neuerungen?
BREITNER: Ich bin der festen Überzeugung, dass der FC Bayern kein Verein ist für einen von 5000 Trainern, die schon 58 mal irgendwo entlassen worden sind. Der FC Bayern hat sich für einen neuen Weg und einen neuen Trainer entschieden. Es kann doch kein Argument sein, zu sagen, er hat noch nie einen Bundesligaverein trainiert. Eine Nationalmannschaft hatte er vor 2004 damals auch nicht trainiert - am Ende stand das deutsche Sommermärchen. Hinter alles kann ich ein Fragezeichen stellen – auch hinter einen Mourinho. Das einzig Wichtige ist die Überzeugung der entscheidenden Leute. Derer, die die Verantwortung haben, einen Trainer zu installieren und nun die Überzeugung haben, dass Jürgen Klinsmann die richtige Entscheidung war.
Protokoll: Reinhard Franke