Führungsfigur bei den Bayern: Boateng, der Boss
München - Robert Lewandowski hat sich in neun Minuten ins Guinness-Buch geballert – für seinen Fünferpack gegen den VfL Wolfsburg wurde er Ende November in die Fibel der Rekorde aufgenommen. Jérôme Boateng benötigte dafür etwas länger: Zwei Jahre und 45 Tage, um genau zu sein. In 56 Bundesligaspielen blieb der Abwehrboss in diesem Zeitraum mit dem FC Bayern ungeschlagen, was ihm ebenfalls den Eintrag ins Buch der Rekorde brachte.
Trotz des Rekord-Ballermanns Lewandowski, trotz des beständig treffsicheren Strafraum-Schelms Thomas Müller, trotz Welttorhüter Manuel Neuer und trotz des die Fans entzückenden Neuzugangs Douglas Costa ist der Spieler des Jahres ein anderer: Boateng. Der Abwehrchef, die Abteilung Security des Herbstmeisters, der Ruhepol. Über den 27-Jährigen lächelt längst niemand mehr, wenn er mit ruhiger, beinahe schüchterner Stimme spricht. Über ihn lästert schon lange keiner mehr, weil er sich durch unüberlegte, manchmal fahrlässige Aktionen Rote Karten einhandelt oder Gegentore verursacht. Das war einmal. Früher, als Boateng ein Suchender war, ein Auszubildender seines Faches.
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Nun hat der gebürtige Berliner den Meisterbrief gemacht – in drei Stufen. Erst Fixpunkt des Triple-Teams 2013 unter Jupp Heynckes, dann im Nationaltrikot der vielleicht beste Spieler des WM-Finals 2014 gegen Argentinien (1:0) unter Bundestrainer Joachim Löw. 2015 schließlich war er der Bayern-Profi mit der besten Entwicklung, der trotz aller Erfolge den größten Schritt nach vorne gemacht hat. Rein fußballerisch und als Persönlichkeit auf dem Platz. Boateng hat nicht nur Titel gewonnen, sondern das wichtigste für einen Spieler: Respekt und Anerkennung – bei den Verantwortlichen, den Fans, den Medien. „Jérôme ist Wahnsinn“, schwärmt Trainer Pep Guardiola, „er hat alles. Jérôme ist einer der besten Innenverteidiger der Welt. Eine große Persönlichkeit, ein guter Typ.“
Boatengs Flügelwechsel sind elementarer Teil des Bayern-Spiels
Weil er beständig an sich arbeitet, immer dazulernen will. Vor allem in Guardiolas stetigem Aus- und Weiterbildungsbetrieb auf Weltklasse-Niveau, den Pep aber nach der Saison verlässt und an den dreimaligen Champions-League-Triumphator Carlo Ancelotti übergibt. Seine Flügelwechsel, auch mit dem linken Fuß mittlerweile in höchster Perfektion, sind ebenso elementarer Bestandteil des Bayern-Spiels wie die langen Pässe über die gegnerische Verteidigung auf Lewandowski oder Müller.
Er habe „sehr hart daran gearbeitet“, für sich selbst und sein Spiel die nötige Stabilität zu erlangen. „Erst einmal habe ich versucht, mich nicht unter Druck zu setzen“, sagte er der „SZ“: „Das ist das Wichtigste, sonst verkrampft man und überzieht erst recht. Ich habe mir also angewöhnt, den Ball nie aus den Augen zu verlieren, wenn wir angreifen, und manchmal spreche ich dann auch mit mir selbst“, erzählte er: „Das hilft mir, wach und konzentriert zu bleiben.“
Bei den Bayern haben ihn vor allem zwei Trainer in seiner Entwicklung weitergebracht: „Jupp Heynckes hat dasselbe gesagt wie mein Vater: Dass ich nicht jeden Ball, den das Team verloren hat, alleine zurückerobern muss.“ Guardiola habe ihm dann nach seiner Ankunft in München „gleich ein paar Szenen vorgespielt und gesagt: Schau, diese Szene kann nicht sein als Abwehrspieler, diese Szene auch nicht. Als Abwehrspieler darfst du nicht zu Boden gehen. Er wusste alles über mein Spiel“, sagte Boateng.
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Er liebt es, „das ganze Spiel vor mir zu haben und unseren Angriff mit dem richtigen Pass zu starten. Ich fühle mich in dieser Rolle wohl. Die Herausforderung treibt mich an.“ Immer weiter, immer mehr. Es steckt viel mehr Oliver Kahn in Boateng, als es den Anschein hat. Auch das Unbeherrschte, oft Aufbrausende hat er sich abgewöhnt: „Ich habe gelernt, ruhig zu bleiben und ein Vorbild zu sein. Es bringt mir oder meinem Team nichts, wenn ich meine Energie und Konzentration verschwende, indem ich mich am Gegner räche oder einen Teamkollegen anschreie.“
2011 kam Boateng von Manchester City nach München, der Verein hat kürzlich den bis 2018 laufenden Vertrag mit ihm bis ins Jahr 2021 verlängert. Neben Thomas Müller stieg er damit in die höchste Gehaltsklasse auf. Da Bastian Schweinsteiger im Sommer den FC Bayern Richtung Manchester United verlassen hat und Kapitän Philipp Lahm seine Karriere 2018 beenden wird, dürfte Boateng dann mit Neuer und Müller das neue Dreigestirn der bayerischen Macht bilden. Müller als „emotional Leader“, und, da Neuer aufgrund seiner Position nicht zu 100 Prozent geeignet ist für die Kapitäns-Rolle, könnte dies nur einer übernehmen: Boateng – und das auch im Nationalteam. Er ist der künftige Chef des deutschen Fußballs: Boss Boateng. Patrick Strasser