Franz Beckenbauer kehrt dem FC Bayern den Rücken: Ein Kaiser in New York

München - In den Jahren vor seinem Tod war es still geworden um Franz Beckenbauer. Nach dem Tod seines Sohnes 2015, den Enthüllungen um die Vergabe der WM 2006 und aufgrund von schweren gesundheitlichen Problemen hat sich die größte Persönlichkeit des deutschen Fußballs immer mehr aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Am 7. Januar 2024 ist Franz Beckenbauer im Alter von 78 Jahren in Salzburg gestorben.
In der am 29. September 2023 erschienenen Biografie "Mensch, Kaiser – Lichtgestalt mit Schattenseiten" beleuchtet AZ-Autor Florian Kinast die Höhen und Tiefen, die sich schon immer durch Beckenbauers Leben zogen und schildert in detailreichen Erzählungen neben seinen Erfolgen als Spieler und Teamchef auch seinen jahrzehntelangen Kampf um Respekt und Wertschätzung.
Das Buch beleuchtet seine großen Leistungen auf dem Fußballplatz, aber auch von seiner Nähe zu den Mächtigen der bayerischen Politik, seinen Ausflügen in Hochkultur und Gesellschaft, die ihm manchmal das Ansehen eines kosmopolitischen Weltmanns einbrachten – und andere Male den Ruf eines Gockels aus Giesing. Die AZ präsentiert eine fünfteilige Serie. Hier Teil 4 – der Abschied nach New York und ein Rendezvous mit Nachbar Rudolf Nurejew.
"Traurig is scho, Franz": Beckenbauers Abschied beim FC Bayern
Beckenbauer sitzt nach seinem letzten Spiel für den FC Bayern, einem 2:2 gegen Meister Mönchengladbach im Mai 1977, lange noch in der Kabine. Ein Spieler nach dem anderen verabschiedet sich von ihm, der Kaiser geht als Letzter. Er sagt den Journalisten Lebewohl ("Dann hättmas. Servus beinand"), dann trifft er in den Katakomben noch einmal Sepp Renn, die gute Seele des Klubs, der Beckenbauer seit 1958 kennt, als er von den Sechsern rüberwechselte zu den Roten.
Sepp ist ein Universalgenie bei den Bayern, er ist Schuster, Zeugwart, und vor allem ist er der Beichtvater, dem die Spieler in den Jahrzehnten so viele Geheimnisse anvertrauen. Eskapaden, Verfehlungen, Frauengeschichten, weil sie wissen: Der Sepp sagt nix. An diesem Tag sagt der Sepp schon etwas, der Sepp sagt zu Beckenbauer: "Traurig is scho, Franz." Famous last words des alten Freundes und Weggefährten.
"Flucht" nach New York: In Deutschland gibt es auch Spott für Franz Beckenbauer
In Deutschland wird der Abschied zu Cosmos New York natürlich nicht nur wie in den an ihn geschickten Briefen mit wohlwollenden Sympathiebekundungen quittiert, es hagelt auch Häme.
Voll des Spotts schreibt Hellmuth Karasek im "Spiegel" in seinem schon berühmten Nachruf mit dem Titel "Libero auf der Flucht": "Seit Heinrich IV. in Canossa sich seine bloßen Füße im Schnee wundstand, seit Ludwig II. im Starnberger See umnachtet baden ging und Wilhelm der Zwote im holländischen Exil Bäume zersägte, ist keine Majestät im Bewusstsein der Nation so tief gesunken wie Kaiser Franz. Sein Wechsel vom internationalen Fußballparkett des Münchner Olympiastadion-Rasens in die Hillbilly-Prärie wirkt auf die verstörte deutsche Fußballgemeinde so, wie es Ballettomanen schockieren würde, wenn Nurejew auf einen Reeperbahn-Tingeltangel herunterstiege oder Opernfans, wenn die Callas im Duett mit Heino aufträte." Zu Nurejew gleich noch mehr.

Aber Beckenbauer gefällt es in der Neuen Welt, und natürlich genießt er auch das neue Leben inmitten der schicken New Yorker Society. Er trifft auf Liza Minelli und Muhammad Ali, die er beide auch im Madison Square Garden sieht, sie im Musical, ihn im Boxring.
6000 Mark Miete: In New York taucht Franz Beckenbauer in eine neue Welt ein
Mit Robert Redford schlendert er durch den Central Park, er besucht Baseballspiele der New York Yankees und in Greenwich Village ein Konzert der Songwriterin Carly Simon, nach einem Cosmos-Spiel gesellt sich zu ihm an den Rand des Ermüdungsbeckens ein früherer US-Außenminister. Es ist ein oberbayerisch-mittelfränkisches Gipfeltreffen, der Giesinger Beckenbauer und der gebürtige Fürther Henry Kissinger.

Zusammen mit Pelé und den anderen Mitspielern ist er Stammgast im Studio 54 – dem exzentrisch exzessiven, bemerkenswerterweise der Schwabinger Großraumdisco Blow Up aus den 1960er Jahren nachempfundenen Nachtclub in Midtown Manhattan, in dem die Cosmos-Profis sogar einen eigenen Tisch haben. Immer wieder geht er in die Met, eines Abends sieht er Luciano Pavarotti in "L'elisir d'amore" von Gaetano Donizetti. Die berührende Darbietung der Arie "Una furtiva lagrima", sagt Beckenbauer später einmal, werde er nie vergessen.

Genauso wenig wie den Moment nach der Aufführung, als er Pavarotti auf dessen Wunsch hin in der Garderobe besucht und der Startenor vor ihm auf die Knie sinkt, mit den Worten: "Maestro." Jascha Silberstein, erster Cellist an der Met, wird zu einem engen Freund, der ihm eine neue Wohnung vermittelt. Im Apartment-Hotel Navarro, Central Park South, 21. Stock,
360-Grad-Rundumblick, Monatsmiete 6000 Mark. Einer seiner Nachbarn dort ist Rudolf Nurejew, dessen Sekretär Luigi Beckenbauer immer Karten für die Aufführung der Ballett-Legende vorbeibringt, im Gegenzug bekommt der Luigi Tickets für Cosmos. Nurejew geht nie ins Giants Stadium, er interessiert sich nicht für Fußball.

"Ich bin von der anderen Fakultät": Ein Treffen mit Rudolf Nurejew läuft anders als gedacht
Aber er interessiert sich für den Franz. Eines Tages lädt der Tänzer den Nachbarn ins River Side Café nach Brooklyn ein. Als Beckenbauer kurz vor der Nachspeise eine Hand auf seinem Knie spürt und die Absichten der zweisamen Verabredung begreift, erwidert er, wie er später sagt: "Du, Rudolfo, lass gut sein. Ich bin von der anderen Fakultät."
Dankbar ist Nurejew dennoch, als er eines Tages ohne weitere Absichten seine geschundenen Füße zeigt, die Beckenbauer als "verkrüppelt und völlig entstellt" wahrnimmt. Er vermittelt ihm Cosmos-Masseur Joel Rosensteen, der den Tänzer behandelt und richtig bandagiert. "Danach", sagt Beckenbauer einmal, "ist der Rudolfo wieder drei Meter hoch gesprungen."

Ein Wunder blieb aus: 1977 stirbt Franz Beckenbauer senior
Beckenbauer beendet seine erste Saison im August 1977 mit dem Meistertitel, mit einem 2:1 im Playoff-Finale gegen die Seattle Sounders, als er im anschließenden Karibik-Urlaub in einem Telefonat mit seiner Mutter von der Erkrankung seines Vaters erfährt.

Bauchspeicheldrüsenkrebs, unheilbar, die Ärzte geben ihm nicht mehr lang. Als sich der Zustand rapide verschlechtert, fliegt Franz zurück nach München, besucht seinen Vater täglich im Schwabinger Krankenhaus. Die Hoffnung aufs Wunder bleibt aus, Ende November stirbt Franz Beckenbauer senior mit 72 Jahren.
Bei der Beerdigung am Perlacher Friedhof sieht man unter den rund 100 Trauergästen auch Erich Riedl. Den CSU-Bundestagsabgeordneten und Präsidenten des TSV 1860, den auch eine heute kaum mehr bekannte, sehr persönliche Beziehung zur Familie verbindet.

Lesen Sie weiter im Buch, warum 1860-Präsident Erich Riedl so oft im Hause Beckenbauer zu Besuch war, wie sehr der Löwen-Boss von den Apfelkücherl von Mama Antonie schwärmte – und wie der Kaiser Ende 1977 doch noch fast ein Blauer geworden wäre.
Florian Kinast: Mensch Kaiser - Lichtgestalt mit Schattenseiten. Lübbe Life, 287 Seiten, 20 Euro, ISBN: 978-3-431-07057-6
Hinweis: Die Serie wurde bereits im September 2023 anlässlich der Publikation der Biografie über Franz Beckenbauer auf abendzeitung.de veröffentlicht und ist nun nach dem Tod des Kaisers geupdatet worden.