Interview

FC Bayern: "Stinksauer" auf Hitzfeld – wie es zu Helmers Mittelfinger-Geste kam

Teil 2 des AZ-Interviews mit Thomas Helmer. Anlässlich seines 60. Geburtstags am 21. April spricht die FC-Bayern-Legende über das fatale Champions-League-Finale 1999 gegen Manchester United, seinen Frust wegen Ottmar Hitzfeld, eine unbedachte Geste – und seine zweite Karriere als TV-Moderator.
von  Johannes Mittermeier
Disharmonie bei den Bayern: Trainer Ottmar Hitzfeld (re.) und Thomas Helmer auf Distanz.
Disharmonie bei den Bayern: Trainer Ottmar Hitzfeld (re.) und Thomas Helmer auf Distanz. © IMAGO / Sven Simon

Herr Helmer, mit dem FC Bayern holten Sie drei Meisterschaften, dazu DFB-Pokal und Uefa-Cup, 1997 wurden Sie sogar Kapitän. 1999 endete Ihre Münchner Zeit. Würden Sie zustimmen, dass der Abschied unschön ausfiel, vielleicht sogar ein bisschen unwürdig?
THOMAS HELMER: Ach ja (seufzt). Dazu muss ich ein bisschen ausholen. Der Verein hat mit offenen Karten gespielt, Trainer Ottmar Hitzfeld sagte mir schon im Winter, dass mein Vertrag nicht verlängert wird. Dann hatte ich ein Angebot vom FC Liverpool, der sehr gutes Geld geboten hat. Uli Hoeneß sagte zu mir: Thomas, mach das! Aber für mich war der sportliche Faktor ausschlaggebend. Ich bin geblieben, weil ich wusste, dass wir Meister werden – und die anderen beiden Titel, DFB-Pokal und Champions League, wollte ich auch. Dazu hatte mir Ottmar zugesichert: Du spielst nicht mehr so oft, aber wenn du spielst, bist du Kapitän. Das hat er auch eingehalten. Deshalb habe ich mich dafür entschieden, lieber die möglichen Titel zu gewinnen. Sagen wir es deutlich: Das hat nicht geklappt.

Bayern wurde überlegen Meister, aber dann folgte das dramatisch verlorene Champions-League-Finale in Barcelona gegen Manchester United. Nach Abpfiff streckten Sie plötzlich beide Mittelfinger in die Höhe. Mit über 25 Jahren Abstand: Was war da los?
Auch hier gibt es eine Vorgeschichte. In der Vorrunde spielten wir gegen Bröndby, mir unterlief ein Eigentor, und Ottmar war der Meinung, dass ich auch das zweite Gegentor verschuldete. Wir verloren 1:2. Danach hat er mich in der Champions League keine einzige Sekunde mehr eingesetzt. Ich erinnere mich, dass es im Viertelfinale gegen Kaiserslautern schon 3:0 oder 4:0 stand, Ottmar hat dreimal gewechselt – und drei andere gebracht. Da wusste ich: Unter ihm werde ich nie mehr in der Champions League spielen. 

Champions-League-Finale 1999: Helmer war "stinksauer" auf Hitzfeld

Auch im Finale saßen Sie auf der Bank. Und sahen von dort, wie Mario Basler zur frühen Bayern-Führung traf. Das 1:0 hielt lange. Sehr lange.
Am Ende hatte United drei oder vier Stürmer auf dem Platz. Als Lothar Matthäus kurz vor Schluss rausging, war für mich klar, dass ich als Abwehrspieler kommen muss. Ich war stinksauer, dass mich Ottmar nicht gebracht hat – in einer Situation, in der es um alles ging!

Manchester drehte das Spiel mit zwei Treffern in der Nachspielzeit. Für Bayern wurde es die "Mutter aller Niederlagen".
Leid tat es mir vor allem für meine Mannschaft, die ich immer noch als meine Mannschaft angesehen habe. Wir hatten richtig gut gespielt, aber das zweite Tor nicht gemacht. Dem Mario Basler sage ich immer wieder: Du warst bester Mann, warum bist du in der 89. Minute raus? Persönlich wusste ich, dass es meine letzte Chance war, diesen Pokal zu holen. Die war dann weg. So kam einfach alles zusammen: Enttäuschung, Frust, Wut. Dann habe ich mich leider zu dieser Mittelfinger-Aktion hinreißen lassen. 

Hitzfeld hat Sie für das letzte Bundesligaspiel und auch für das noch anstehende Pokalfinale gegen Bremen suspendiert. 
Das hat mir wehgetan. Zumal Ottmar sagte, dass er mich eigentlich hätte spielen lassen wollen. Und dann haben wir das Pokalfinale auch noch verloren, im Elfmeterschießen. So gab es die Verabschiedung nur mit der Meisterschale – das war natürlich nicht das, was ich mir gewünscht hatte.

Helmer wurde Moderator – obwohl ihm TV-Koryphäe das Talent absprach

Kommen wir zu erfreulicheren Themen: Mit der Nationalmannschaft (68 Länderspiele, fünf Tore) wurden Sie Europameister 1996 und verpassten im Turnier lediglich zehn Minuten. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit?
Es gab ja dieses Lied, „Football’s Coming Home“, das wurde überall gespielt, in der Kabine, im Stadion, es ging einem gar nicht mehr aus dem Kopf. Dazu die Queen, die uns nach dem gewonnenen Finale beglückwünscht hat – sie hatte am selben Tag Geburtstag wie ich (lacht). Außerdem war der Zusammenhalt in der Mannschaft, trotz oder vielleicht wegen den vielen Verletzten, wirklich einzigartig. Das habe ich in dieser Form nie wieder erlebt. Obwohl immer gesagt wird, dass die Bayern und Dortmunder nicht miteinander können, haben wir uns echt zusammengerauft. Alle stellten ihr Ego mal ein bisschen nach hinten. 

Und sportlich?
Es war mein großer Traum, einmal in Wembley zu spielen. Sensationell war auch die Atmosphäre im Old Trafford. Wir waren sicher nicht die beste Mannschaft und hatten ganz, ganz enge Spiele, gegen Kroatien, gegen Italien, gegen England, auch im Finale gegen Tschechien. Aber das Glück war auf unserer Seite. Das sind Momente, die man nicht vergisst.

Nach Ihrer Karriere, die mit Kurzgastspielen in Sunderland und Berlin endete, wechselten Sie die Seiten und wurden TV-Moderator. Dabei zitierten Sie Sportschau-Legende Ernst Huberty einst mit den Worten: „Nie wieder hat mir jemand so nett gesagt, dass ich eigentlich nicht besonders talentiert sei für die Moderation.“ Hat Sie das nicht entmutigt?
Naja, er hat dann gesagt: Herr Helmer, jetzt versuchen Sie Ihren 100 besten Freunden mal zu erklären, wie das Spiel Gladbach gegen Bayern gelaufen ist. Dann habe ich zu ihm gesagt: Mit Verlaub, Herr Huberty, erstens habe ich keine 100 Freunde. Und zweitens ist da vorne nur ein schwarzes Loch – also die Kamera. Dann haben wir beide gelacht. 

Helmer: "Entweder schwimmst du oder gehst unter"

Heißt das, es gab fast keine Ausbildung, sondern mehr Versuche am lebenden Objekt?
Genau. Huberty war ja die Koryphäe, er hat mir ein paar Tipps gegeben, die sehr wertvoll wurden. Ganz einfach handwerkliche Dinge. Und mein Chef hat mich machen lassen, alles Mögliche, Live-Aufsager, Aufzeichnungen, Interviews. Es war viel Learning by Doing.

Dafür lief es ziemlich gut. Bei der WM 2002 und der EM 2004 waren Sie als Reporter dabei.
2002 musste ich ein Live-Interview mit Rudi Völler führen, damals DFB-Teamchef. Obwohl ich noch gegen Rudi gespielt hatte, war das schon eine ganz andere Hausnummer. So wurde ich ins kalte Wasser geworfen – entweder schwimmst du oder gehst unter.

Sie schwammen. Und übernahmen später die Moderation der TV-Institution "Doppelpass" auf Sport1. 
Als Profi war es irgendwann mein Ziel, für die Nationalmannschaft zu spielen. Im Fernsehen entsprach der „Doppelpass“ dieser Ebene. Erst war ich Experte, dann bin ich in die Moderation reingerutscht. Ich hatte zu meinem Chef gesagt: Kann ich auch mal selbst die dämlichen Fragen stellen? Er antwortete: Das schaffst du sowieso nicht! Das war irgendwann eine Art Wette zwischen uns.

Warum Helmer nie Trainer oder Manager wurde

Zwischen 2011 und 2015 saßen Sie auch im Aufsichtsrat von Arminia Bielefeld. Kam eine klassische Trainer- oder Manager-Karriere für Sie nie infrage?
Das hat sich nie ergeben, ich habe es aber auch nicht forciert. Trainer war sowieso nie ein Thema, aber vielleicht hätte ich es mir einmal in einer Position bei einem Klub vorstellen können. Ich lebe schon lange in Hamburg, und irgendwann hatte ich den Deal mit meiner Frau, dass nur diese Stadt für einen Job infrage käme. Damit waren meine Möglichkeiten stark eingeschränkt (lacht).

Mit dem Wissen von heute: Hätten Sie einen Ratschlag, den Sie Ihrem 20-jährigen Ich geben würden?
Es hört sich ein bisschen hochtrabend an, aber ich glaube, dass gewisse Umgangsformen auch 20-Jährige nicht außer Acht lassen sollten: danke, bitte, guten Tag, auf Wiedersehen. Außerdem zu versuchen, nie aufzugeben, denn das habe ich wirklich gelernt: Wenn man das Gefühl hat, in einer Sackgasse zu sein, gibt es immer einen anderen Weg. Man muss mutig sein und sich nicht von Niederlagen oder Verletzungen unterkriegen lassen. Ich habe am meisten Kraft daraus geschöpft, diese positive Einstellung beizubehalten.

Zum Geburtstag darf man sich etwas wünschen. Haben Sie ein großes Ziel oder eine unerfüllte Leidenschaft?
Ich reise ganz gerne und muss einmal nach Australien – da war ich noch nie. Ansonsten? Alle wollen mich zum Golfen bringen, aber ich weiß nicht, ob das meine Leidenschaft wird (lacht).


In Teil 1 des AZ-Interviews mit Thomas Helmer spricht die FC-Bayern-Legende über sein Beinahe-Karriereende als Teenager, seine schwierigen Anfänge in Dortmund und München, die Zeit beim FC Hollywood – und seinen Fehler beim historischen Phantomtor 1994.

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