Interview

"Er schreit über den Trainingsplatz": Wie FC-Bayern-Leihgabe Alexander Nübel den VfB Stuttgart wachgerüttelt hat

DAZN-Experte Sebastian Kneißl spricht im AZ-Interview über den VfB Stuttgart, die Rollen von Bayern-Leihgabe Alexander Nübel und Sebastian Hoeneß sowie eine mögliche Zukunft beim FC Bayern.
von  Victor Catalina
Neben Serhou Guirassy ist Alexander Nübel der wesentliche Rückhalt des VfB Stuttgart in dieser Saison, findet DAZN-Experte Sebastian Kneißl.
Neben Serhou Guirassy ist Alexander Nübel der wesentliche Rückhalt des VfB Stuttgart in dieser Saison, findet DAZN-Experte Sebastian Kneißl. © IMAGO/Ulmer

München - Das AZ-Interview mit Sebastian Kneißl. Der DAZN-Experte begleitete die Partie des VfB Stuttgart gegen Bayer Leverkusen in der Vorwoche und erzählt exklusiv, was die Schwaben unter Sebastian Hoeneß stark macht, welche Rolle Bayern-Leihgabe Alexander Nübel spielt und ob der Neffe des Bayern-Patrons Uli Hoeneß bereit für den Job beim Rekordmeister ist. 

Sebastian Hoeneß und die neue Stuttgarter Stabilität

AZ: Sebastian Kneißl, Sie haben vergangene Woche das Spiel der Stuttgarter gegen Bayer Leverkusen für DAZN begleitet. Wie ordnen die den Auftritt des VfB ein?
SEBASTIAN KNEISSL: Ich hatte schon auf dem Schirm, dass sie (Stuttgart, d. Red.) guten Fußball spielen. Aber, dass der VfB so gut ist, zum Thema Positionsspiel, zum Thema Gegenpressing. Das war Champions-League-Niveau. Da sind Leverkusen-Spieler vom Platz gegangen und haben wirklich vor sich her und dann auch  zu mir gesagt: "Boah, das ist Weltklasse-Fußball."

Der VfB Stuttgart unter Pellegrino Matarazzo war stark, vor allem in der ersten Saison mit dem 9. Platz. Unter Michael Wimmer und Bruno Labbadia haben sie gute Ansätze gezeigt. Was macht Ihr Namensvetter so anders, um so viel mehr aus der Mannschaft zu holen, obwohl er so viele Schlüsselspieler im Sommer verloren hat, darunter Konstantinos Mavropanos (West Ham), Kapitän Wataru Endo (Liverpool FC) oder Borna Sosa (Ajax)?
Ich glaube, das wichtigste Element ist das Positionsspiel. Das war unter Labbadia nicht mehr so das Thema. Da ging es mit einer anderen, defensiveren Philosophie zugange. Aber das ist für mich das größte Merkmal unter Sebastian Hoeneß, dass sie natürlich die defensive Stabilität haben. Sie haben Dan-Axel Zagadou und Waldemar Anton da hinten drin, Hiroki Ito (Muskelverletzung, d. Red.) fehlt jetzt gerade.

Dann gibt es Maximilian Mittelstädt, der da reinrutscht. Und die zwei Sechser (Angelo Stiller und Atakan Karazor, d. Red.) noch davor. Ich nehme die beiden Innenverteidiger, die beiden Sechser, plus Nübel. Das ist die eigentliche Arbeit von Sebastian Hoeneß. Das gibt dir als Offensiver die Möglichkeit, etwas zu probieren. Wie sieht die Breite und gleichzeitig die Tiefe in einem Guss nutzen – Bayer Leverkusen loben wir alle dafür, aber beim VfB hätte ich es nicht erwartet, dass sie es so gut machen.

"Stellt sich so sensationell in den Dienst der Mannschaft": Großes Lob für FC-Bayern-Leihgabe Nübel

Als Sebastian Hoeneß in Stuttgart angefangen hat, haben sie gegen den Abstieg gespielt. Gab es aus Ihrer Sicht einen Schlüsselmoment oder ein Schlüsselspiel, das die Mannschaft in ihrer Entwicklung bestätigt hat, nach dem man sagen konnte: Ja, das ist es?
Wenn man als Trainer kommt und am Anfang direkt Ergebnisse einfährst, ist das Standing bei der Mannschaft erstmal da. Genau das ist passiert. Dann haben sie dieses legendäre Spiel gegen den BVB letzte Saison gehabt (3:3 nach 0:2 und 2:3 in Unterzahl, d. Red.). Damit war klar, das was Hoeneß macht, ist okay für diese Mannschaft.

Beim VfB Stuttgart entwickelte sich Alexander Nübel zum sicheren Rückhalt und Leader des Teams, findet DAZN-Experte Sebastian Kneißl.
Beim VfB Stuttgart entwickelte sich Alexander Nübel zum sicheren Rückhalt und Leader des Teams, findet DAZN-Experte Sebastian Kneißl. © IMAGO/Sven Simon

Es muss wohl wirklich auch an dieser Personalie Nübel liegen, der in der Kabine extrem professionell ist. Wenn sich in diesem Kader jemand was einbilden könnte, auf vergangene Sachen, dann wäre das, glaube ich, Nübel. Aber er stellt sich so sensationell in den Dienst der Mannschaft, so professionell. Er strahlt Ruhe und Souveränität aus. Er schreit auch im Training über den Trainingsplatz, wenn sie A-Elf gegen B-Elf spielen und der gegnerische Torhüter eine gute Parade hatte und lobt ihn. Wir sprechen über Undav, wir sprechen über Guirassy, wir sprechen über Führich. Alles gut. Aber es sind meist die Ruhigeren, die der Mannschaft hinten die Stabilität geben. Da ist Nübel für mich, speziell auf der Torhüterposition, einer, den ich so sehr schätze, damit auch der VfB die Stabilität hat.

Manuel Neuer hat gerade bis 2025 verlängert. Auch mit Daniel Perez will sich der FC Bayern für die Zukunft aufstellen. Kommt Nübel bei Ihnen mit auf die Liste der potentiellen Nachfolger?
Nein. Da sehe ich Nübel tatsächlich noch länger in der Kategorie VfB Stuttgart. Ich finde, das ist auch vollkommen angemessen. Bei Bayern sehe ich ihn nicht mehr, weil es natürlich auch eine Vorgeschichte hat. Aber, dass er noch den ein oder anderen Topklub in seiner Vita haben wird, am Ende der Karriere, wenn er darauf zurückblickt, das definitiv. 

Champions League für den VfB Stuttgart? "Wenn sie dabei bleiben…"

Wenn wir über Stuttgart reden, dann müssen wir auch über Guirassy reden. Das ist wahrscheinlich der Spieler, an dem man die Entwicklung unter Hoeneß am besten festmachen kann. Was macht ihn im System von Hoeneß so stark?
Die Abschlussstärke müssen wir nicht nennen, die ist für jeden sichtbar. Was aber genial ist, sind die Bewegungen ohne Ball. Hier wird ersichtlich, wie gut Guirassy die Räume beläuft und weiß, wie er Räume für andere freiziehen und seine eigenen am besten nutzen kann. Das ist auch auf ihn abgestimmt. Er weiß genau, wenn beispielsweise Chris Führich ins Dribbling geht, wann er im Rücken des Abwehrspielers sein, wann er in die Tiefe gehen und wann entgegenkommen muss. Dieses Timing macht ihn für die Mannschaft extrem wertvoll, weil er immer wieder Optionen liefert, die schwer zu verteidigen sind.

Lang, lang ist's her: Im März 2010 spielte der VfB Stuttgart zuletzt Champions League. Damals setzte es, mit Sami Khedira (r.), Aliaksandr Hleb, Cacau oder Zdravko Kuzmanovic im Team, in Barcelona ein 0:4. Bringt Sebastian Hoeneß die Königsklasse zurück ins Schwabenland?
Lang, lang ist's her: Im März 2010 spielte der VfB Stuttgart zuletzt Champions League. Damals setzte es, mit Sami Khedira (r.), Aliaksandr Hleb, Cacau oder Zdravko Kuzmanovic im Team, in Barcelona ein 0:4. Bringt Sebastian Hoeneß die Königsklasse zurück ins Schwabenland? © IMAGO / Sportfoto Rudel

Das Spiel ist tabellarisch Zwei gegen Drei, ein Spitzenspiel. Dass der FC Bayern da oben bleibt, davon ist auszugehen. Wie sieht es beim VfB aus? Verfallen sie irgendwann mal wieder in die Normalität oder ist das, was sie zeigen vielleicht sogar das neue Normal? Wir sehen es auch in anderen Ligen, Girona, Aston Villa,…
Das ist der Klassiker, von: Müssen wir abwarten, im Transferfenster. Was passiert mit Guirassy? Können sie bis zum Ende der Saison da oben in den Champions-League-Plätzen bleiben? Wenn sie so weitermachen, definitiv ja. Dann gibt es auch den Afrika Cup. Bayer Leverkusen hat das größte Problem von allen Mannschaften da oben (Odilon Kossounou (Elfenbeinküste), Edmond Tapsoba (Burkina Faso), Nathan Tella (Nigeria), Amine Adli (Marokko) und Victor Boniface (Nigeria, d. Red). Aber traue ich dem VfB diese Saison Champions League zu? Wenn sie in der Konstellation dabei bleiben, definitiv. 

Stichwort Champions League: Da gibt es ab der nächsten Saison den neuen Modus. Wenn alles so bleibt, wie es im Moment ist, würden die Bundesliga und die italienische Serie A als beste zwei Ligen dieser Saison einen zusätzlichen Startplatz bekommen. Sollte Platz fünf reichen, auf den der VfB sechs Zähler Vorsprung hat, würde es einen Einzug in die Champions League nochmal wahrscheinlicher machen. Was glauben Sie, wie sich der VfB in der Königsklasse schlagen würde?
Die Entwicklung zurück zu Ballbesitz, zu Positionsspiel ist genau das, was ich insgesamt mag. Es gab ein paar Jahre, in denen viel auf Umschaltfußball gesetzt wurde. Das ist jetzt nicht die attraktivere Variante. Aber ich sehe schon den Trend wieder dahin (zu Ballbesitz und Positionsspiel, d. Red.). Deshalb glaube ich, Mannschaften, die in die Richtung gehen, werden es gut machen.  Sie werden mir nicht entlocken, dass ich sage, der VfB wird Champions-League-Halbfinale spielen. Aber mit der Spielweise traue ich ihnen zu, dass sie den ein oder anderen Sieg in der Gruppenphase einfahren würden, ja.

Ein Hoeneß für Hoeneß? Sebastian Kneißl bremst die Euphorie 

Jetzt hat der VfB einen äußerst ruhigen und dominanten Spielstil, vor allem für eine Überraschungsmannschaft. Wie nah ist Hoeneß damit schon am System Tuchel, der Wert auf dieselben Attribute legt und wo gibt es noch Unterschiede?
Ich finde, Tuchel ist noch ein bisschen flexibler. Er ist nicht ganz so auf Grundformationen festgelegt. Hoeneß ist da schon etwas klarer, speziell in dieser Saison, in der Herangehensweise. Er hatte, ich nenne es jetzt mal, unglückliche Zeiten, beispielsweise in Hoffenheim. Das hat ihm schon auch Unrecht getan. Deswegen freut es mich umso mehr, dass er jetzt mit einer Gruppe arbeitet, die seine Philosophie auch versteht.

2019/20 führte der heutige VfB-Trainer Sebastian Hoeneß die U23 des FC Bayern zur Drittligameisterschaft. Damals schon mit dabei: Jamal Musiala (3.v.r.), Josip Stanisic (1.v.l.) sowie Malik Tillman (2.v.l.).
2019/20 führte der heutige VfB-Trainer Sebastian Hoeneß die U23 des FC Bayern zur Drittligameisterschaft. Damals schon mit dabei: Jamal Musiala (3.v.r.), Josip Stanisic (1.v.l.) sowie Malik Tillman (2.v.l.). © IMAGO / Jan Huebner

Das ist beim VfB momentan der Fall. Allerdings gibt es auch andere Teams, die ein Auge auf den Chefcoach der Stuttgarter geworfen haben. Borussia Dortmund sieht in ihm den potentiellen Nachfolger für den in der Kritik stehenden Edin Terzic. Sebastian Hoeneß’ Onkel Uli sagte jüngst über die Stuttgarter: "Wie die jetzt Fußball spielen, da lacht einem das Herz im Leibe." Das ist kein Geheimnis, dass es sein großer Traum wäre, seinen Neffen vielleicht irgendwann mal bei Bayern zu sehen. Hätte er perspektivisch das Zeug dazu?
Dass Uli Hoeneß das sagt und damit auch ein bisschen Druck aufbaut, vielleicht auch ein bisschen den Fokus von der eigentlichen Sache weg lenkt. Das ist der Klassiker. Dass er es ihm trotzdem zutraut, davon gehe ich aus. Ich sehe ihn aktuell nicht in der Kategorie, FC Bayern, die Erste (Mannschaft, Hoeneß gewann 2020 mit der U23 die Drittliga-Meisterschaft, d. Red.) zu trainieren. Sondern, ich sehe ihn tatsächlich in dieser Kategorie aktuell (VfB Stuttgart, d. Red.) und würde ihm da erstmal noch ein paar Jahre wünschen. 

Besteht der VfB erneut in der Allianz Arena? "Ich traue ihnen auch mehr zu"

Der VfB braucht nur noch zwei Zähler, um vor der Winterpause so viele Punkte zu haben, wie in der gesamten letzten Saison, 33. Den Namen haben sie. Die Geschichte haben sie, sie sind Vierter der ewigen Tabelle. Sie haben den Standort, sie haben zahlreiche Sponsoren und potentielle Sponsoren. Sie spielen in einem Champions-League-Stadion, das jetzt nochmal für die EM renoviert wird. Was muss der VfB zukünftig tun, damit diese Saison eben kein One-Hit-Wonder bleibt?
Zum einen, Sebastian Hoeneß weiter beschäftigen, das ist ganz wichtig und daran auch festzuhalten. Fabian Wohlgemuth (Stuttgarts Sportdirektor, d. Red.) hat es gesagt, das war seine beste Amtshandlung, Sebastian Hoeneß zum VfB zu lotsen und entsprechend nicht nur diese Spielphilosophie nicht nur zu verwalten, weil das schnell dekodiert ist. Mach das ein Jahr lang und dann wissen sich Gegner darauf einzustellen. Sondern diese ruhige, sachliche Art trotzdem auch weiterzuentwickeln, mit den passenden Spielertypen dazu.

Im vergangenen Aufeinandertreffen zwischen FCB und VfB in der Allianz Arena trafen sowohl Mathys Tel (l.) als auch Jamal Musiala (r.). Das letzte Wort hatte jedoch Serhou Guirassy. Und diesmal?
Im vergangenen Aufeinandertreffen zwischen FCB und VfB in der Allianz Arena trafen sowohl Mathys Tel (l.) als auch Jamal Musiala (r.). Das letzte Wort hatte jedoch Serhou Guirassy. Und diesmal? © IMAGO/ULMER

Zu guter Letzt: Der VfB hat zuletzt zweimal in der Allianz Arena in Folge ein 2:2 geholt. Vergangene Saison rettete Guirassy in der Nachspielzeit vom Punkt das Remis. Wird der FC Bayern am Sonntag erneut "guirassiert"?
(lacht) Ergebnistechnisch ist das immer schwierig, aber ich traue dem VfB mindestens ein Unentschieden zu. Ich traue ihnen auch mehr zu.

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