Ein echter van Gaal - für 50 Euro
AMSTERDAM - Die Weisheiten des holländischen Fußballlehrers erscheinen jetzt in schwarz (Intimes aus dem Privatleben) und weiß (Trainingsgeheimnisse).
Das Buch, das Louis van Gaal hoch hält, sieht viel gelesen aus: verschlissen, zerfleddert, 1000 Mal in die Hand genommen. Er berichtet von der Lektüre: „Auf Seite 107 steht: ’Am Tag nach dem Spiel: besprechen und verbessern!’ Das ist genau meine Vision.“ Auf dem vergilbten Buchdeckel steht „Voetbal“: ein Werk von Jan van der Lent, aus dem Jahr 1946 und laut van Gaal „das bislang einzige Fußballbuch mit einer Vision“. Betonung auf „bislang“. Denn jetzt ist das neue Wunderwerk da, präsentiert vor 500 Gästen in der Amsterdam Arena: „Louis van Gaal - Biografie + Visie“ (Vision). Ein möglicher Titel wäre auch gewesen: „Das Buch Louis – die Offenbarung".
Dass der Bayern-Coach am Tag, als Ego und Selbstvertrauen verteilt wurden, einen riesigen Rucksack dabei hatte, das hat in München schon so mancher zu spüren bekommen. Das Selbstverständnis des 58-Jährigen, ein echter van Gaal also, ist nun auf 400 Seiten Papier gebannt und für 50 Euro (!) zu haben – jedoch nur auf holländisch. Nicht nur seine Trainings- und Taktikgeheimnisse verrät er (inklusive Strichmännchen-Zeichnungen) im weißen „Visionen“-Teil (146 Seiten), sondern auch Intimstes aus dem Privatleben im schwarzen „Biografie“-Part (242 Seiten). Die AZ übersetzt Auszüge.
KINDERJAHRE
„Galileiplantsoen nummer 64: Hier wurde ich geboren und habe ich bis zu meinem 21. Lebensjahr gewohnt.“ Mit diesem Satz beginnen die Aufzeichnungen des Louis van Gaal – eher harmlos. Ein entsprechendes Familienfoto vor der Haustür zeigt den kleinen Louis mit dem großen Bruder Ad. Insgesamt mit vier Brüdern und vier Schwestern wuchs van Gaal auf. Der älteste Bruder war schon 17, als er auf die Welt kam.Doch so brav, bubihaft und kurzgeschoren Louis junior auf den Bildern im Sonntags-Ornat auch wirken mag: Schon bald sollte sein Leben Fahrt aufnehmen. Ein paar Seiten später schreibt der Ich-Erzähler: „Auf der Schule, schon mit elf Jahren, entdeckte ich mein Interesse für Meisjes (Mädchen). Ich war verrückt nach Carla, der Tochter vom Milchhändler – aber auch nach Inge mit den schönen langen Haaren. Die wohnte gleich um die Ecke vom Milchhändler...“ Es sollte eine kurze Phase der Ablenkung vom Wesentlichen bleiben. Danach, auf dem St. Nicolaas-Gymnasium, gab es für den jungen Louis nur noch Fußball. Erst mit 18 wurden die Damen wieder interessant.
18 PLUS
Mit 18 sind die Haare schon länger geworden, die markante Louis-Tolle ist bereits unverkennbar. Van Gaal lernt die zwei Jahre jüngere Fernanda kennen. Ein Foto zeigt ihn im schicken Anzug samt Krawatte, ein Glas Bier in der Hand, neben der lässig Zigarette rauchenden 16-Jährigen im kurzen Kleidchen. Die Situation, als sie ihm bei ihrem ersten Tanz eröffnete, sie habe einen Anderen, beschreibt van Gaal auf Seite 18 so: „Woraufhin ich die legendären Worte sagte: 'Ich werde immer auf dich warten.' Nun, vier Wochen später war es so weit: Sie machte Schluss mit dem Anderen.“ Fernanda sollte seine erste Ehefrau werden und ihm später zwei Töchter schenken. 1994 starb sie an Krebs. Dass van Gaal nicht sämtliche Erziehungsvorgaben, die er einst genoss, in sein Erwachsenenleben hinüber retten konnte, gibt er unumwunden zu: „Um noch mal ganz genau die Wahrheit zu sagen: „Kein Sex vor der Ehe? Das ist mir nicht gelungen.“ Am 4. Juli wurde dann in Amsterdam geheiratet. Das Hochzeitsfoto zeigt die beiden im 70er-Jahre-Look, sie mit Blümchen im Haar.
WEISHEITEN UND KONTROVERSEN
Am Ende des ersten Bandes hat der Autor seine „Weisheiten“ und ein paar Kontroversen, wie er es nennt, gesammelt. Als Erkenntnis Nummer eins ist dort ganz oben vermerkt: „Der Geist ist stärker als der Körper.“ Ein paar Zeilen tiefer heißt es: „Qualität ist das Ausschließen von Zufall.“ Tief blicken lassen auch folgende Sätze: „Die Spieler sind das Wichtigste, der Trainer ist ein Mittel. Aber ich bin ein sehr gutes Mittel. Und das Wichtigste ist dann, dass die Spieler das auch so sehen.“ Auch zu finden: Bekenntnisse zu Ministerpräsident Balkenende („Der spielt nicht irgendeine Rolle vor“) und zu Baccardi-Cola: „Aber das war vor meiner Zeit in Spanien. Dort habe ich dann den Rioja entdeckt.“ Schön auch die Kontroversen. Seine Abschiedsrede vor der Presse beim FC Barcelona begann er mit den Worten: „Freunde von den Medien, ich gratuliere Ihnen. Ich gehe.“ Seine Abschiedsrede als holländischer Nationaltrainer begann mit den Worten: „Presse: minus minus.“ Und einen anderen Journalisten fragte van Gaal im April 1996: „Bin ich so schlau oder bist du so dumm?“
DIE VISION
Die Abteilung „Vision“, entstanden unter kräftiger Mithilfe seines ewigen Asisstenten Andries Jonker, ist vor allem etwas für Fußballfeinschmecker. Viele, viele Strichmännchen-Zeichnungen beschreiben haarklein all die Übungen und Trainingsformen, die das Profileben an der Säbener Straße in den vergangenen Monaten so einschneidend verändert haben. Die Traingsformen „Dreieck“ und „Y“ sind in all ihren Varianten wiedergegeben, ebenso die unterschiedlichsten Pass- und Spielformen im Positionsspiel für die unterschiedlichsten Spielfeldgrößen. Seine Vision fasst van Gaal selbst mit drei Worten zusammen: „Der totale Mensch“. Van Gaal sagt: „Ich habe nicht elf Spieler in einer Mannschaft, sondern elf Menschen.“ Seinen Lehrmeister Max Koops stellt er vor und lässt zudem viele Wegbegleiter zu Wort kommen: Frank de Boer, Iniesta, Carles Puyol, Xavi. Alle sind sich einig: „Van Gaal ist einzigartig.“ So überrascht das Ergebnis des Statistikteils nach 671 Spielen nicht mehr: 61,3 Prozent Siege und je 19,4 Prozent Remis und Niederlagen. Dass Fußball Mathematik ist, sagt er nicht. Dafür sagt er, dass all dies seine Wahrheit ist, nicht die Wahrheit. Immerhin.
DER FC BAYERN
Es ist das kürzeste Kapitel im Buch, logisch. Und wie lang es in der überarbeiteten Version irgendwann einmal sein wird, das weiß wahrscheinlich noch nicht einmal Louis van Gaal. Außer Andries Jonker war jedenfalls niemand vom FC Bayern bei van Gaals Buchpräsentation in der Amsterdam Arena anwesend. In einem Radio-Interview sagte er jedenfalls, er könne sich vorstellen, dass Bayern sein letzter Verein ist und er womöglich danach höchstens nochmal irgendwo als Nationaltrainer arbeiten werde. In Kapitel 20 beschreibt er noch mal den ja nicht ganz unkomplizierten Wechsel von AZ Alkmaar nach München, erzählt, dass der FC Bayern im Lauf der Jahre insgesamt schon fünf Mal auf ihn zugekommen sei, „aber jedes Mal hab ich ein anderes Kreuz gemacht: FC Barcelona, Nationalmannschaft, wieder Barcelona“. Erst jetzt habe es halt so richtig gepasst - und er hat ein gutes Gefühl dabei: „Sie wollen hören, was ich zu sagen habe. Und sie wollen auch, dass eine Struktur in die Mannschaft kommt.“ Dass seine Strategie und Arbeitsweise auf lange Sicht angelegt sind, versteht sich für ihn von selbst. Gut möglich, dass andere jedoch schnell Erfolge sehen wollen.
Thomas Becker