Deutsches Torwart-Dilemma beim FC Bayern? Jean-Marie Pfaff nennt Gründe für den fehlenden Nachwuchs

München - Sepp Maier, Oliver Kahn, Manuel Neuer – und dann? Der einstigen Torwartnation Deutschland gehen langsam aber sicher die Keeper aus, die das Prädikat "Weltklasse" verdienen.
Und das bekommt nun langsam aber sicher auch der FC Bayern zu spüren. Seit jeher ist es der Anspruch des Rekordmeisters, dass bei ihnen der beste deutsche Torhüter zwischen den Pfosten steht.
Der FC Bayern muss zunehmend internationalen Torwartmarkt sondieren
Die Zukunft sieht jedoch düster aus: In der Bundesliga spielt derzeit kein junger deutscher Keeper, dem man es auch nur ansatzweise zutrauen würde, eines Tages in die großen Torwarthandschuhe von Neuer zu schlüpfen. Wohl auch nicht Alexander Nübel, den die Münchner vor wenigen Wochen zum zweiten Mal in Folge verliehen haben. Und auch in der eigenen Jugend gedeiht dem Anschein nach kein neuer Neuer, dem man das Vertrauen schenken möchte.
Deshalb müssen sich die Münchner zunehmend auf dem internationalen Markt nach Torhütern umschauen. Ein Symbolbild dafür ist das aktuelle Transferfenster. Nachdem sich das Neuer-Comeback verzögert und Yann Sommer den FC Bayern in Richtung Mailand verließ, wollte der Rekordmeister das Loch zunächst mit Bono, David de Gea oder Kepa stopfen.

Lediglich ein deutscher Keeper stand auf der Liste: Stefan Ortega (30) von Manchester City, der letztlich aber keine Wechselfreigabe von seinem Coach Pep Guardiola erhielt.
Letztlich entschied sich die Transfer-Taskforce um Jan-Christian Dreesen mit Daniel Peretz, das größte israelische Torwarttalent als Herausforderer von Sven Ulreich in die bayerische Landeshauptstadt zu lotsen. Der 23-Jährige unterschrieb vor wenigen Tagen einen Fünfjahres-Vertrag an der Säbener Straße.
Jean-Marie Pfaff: "Grundbasis des Torwarttrainings ist nicht mehr da"
Woran liegt es, dass im einstigen Keeper-Land Deutschland die Top-Torhüter (auch Marc-André ter Stegen vom FC Barcelona ist bereits 31 Jahre alt) ausgehen? Die AZ hat darüber mit dem ehemaligen Bayern-Keeper Jean-Marie Pfaff gesprochen.
Die aktuelle Situation bereitet dem heute 69-Jährigen große Sorge: "Es ist schon schlimm, dass wir jetzt nicht mehr die großen Torhüter in Deutschland haben. Zwischen guten und Weltklasse-Torhütern ist der Unterschied groß."

Pfaff, der zwischen 1982 und 1988 die Fußballschuhe beim FC Bayern schnürte, sieht den Ursprung des bevorstehenden deutschen Torwart-Dilemmas vor allem in der Ausbildung der Keeper: "In der Zeit nach Sepp Maier ist kein junger Torwart mehr beim FC Bayern rausgekommen. Das kommt davon, dass sich darüber keine Gedanken gemacht wird. Ich habe vor zehn Jahren zu Rummenigge gesagt, dass ich gerne eine Torwartschule am Campus aufmachen würde. Da gab es kein Interesse daran."
Weiter führt Pfaff aus: "Alles wird jetzt versucht, mit Geld zu kaufen, aber die Grundbasis des Torwarttrainings ist nicht mehr da. Der Ball kommt aufs Tor geschossen und die Torhüter boxen den Ball weg oder wehren ihn mit dem Fuß ab. Ein Fuß war früher nur dabei, wenn es notwendig war. Heute hält keiner mehr einen Ball fest. Ich bedaure das. Das ist nicht das Ziel eines Torwarts. Ein Keeper muss reingehen, fliegen."
Junge Torhüter brauchen laut Jean-Marie Pfaff mehr Unterstützung
Den Grund dafür sieht der Belgier bei den deutschen Torwarttrainern, die über zu wenig internationale Erfahrung verfügen: "Es wird nur von Leuten gepredigt, die in unteren Ligen gespielt haben und gut in der Ausbildung zum Torwarttrainer waren." Doch vor allem bei Torwarttrainern kommt es auf die eigene Erfahrung im Profifußball an. Diese gilt es, wie es einst Maier bei Kahn machte, an die nächste Torhütergeneration weiterzugeben.
Auch würden die jungen Keeper auf ihrem Weg an die Weltspitze zu wenig unterstützt und häufig viel zu schnell in Frage gestellt werden. "Als Torwart ist es hart. Da brauchst du Menschen, die dir helfen. Wenn du Unterstützung brauchst, dann bekommst du sie nicht. Wenn man sie nicht mehr braucht, dann bekommt man sie. Dass ein junger Torwart vielleicht mal einen Fehler macht, das ist normal. Aber das darf man dann nicht so schnell abbrechen."
Der FC Bayern sollte Alexander Nübel das Vertrauen geben
Im selben Atemzug erklärt Pfaff: "Du wirst nur mit Erfahrung groß. Aber die Torhüter kommen zu Bayern und sie müssen sofort Leistung bringen. Ein junger Torwart muss Wiederholungen bekommen, aber das bekommt man nicht mehr. Wir haben in Deutschland viele gute Torhüter, nur die bekommen die Chance nicht. Die musst du holen und trainieren und ihnen eine Begleitung geben, damit die das lernen."

Einen Ratschlag für den derzeit ausgeliehenen Nübel hatte der 69-Jährige im Gespräch mit der AZ ebenfalls parat: "Er muss mit erfahrenen Leuten sprechen, die ihm helfen. Er muss es sich selber zeigen. Wenn er Vertrauen haben möchte, dann muss man ihm das Vertrauen auch geben. Wenn er meint, dass er noch nicht so sicher ist, muss man ihn nicht überreden. Dann ist das Thema vorbei."
Jean-Marie Pfaff: "Hoffe, dass Torwart zum FC Bayern kommt, der eigenes Temperament und Klasse zeigt"
Vorbei ist das Torwartproblem beim FC Bayern noch lange nicht. Ob es sich letztlich zu einem Torwart-Dilemma entwickelt, wird die Zukunft zeigen. Dann wird sich auch zeigen, wer die derzeitige Nummer eins des Rekordmeisters eines Tages beerbt.
Klar ist für Pfaff, dass die Münchner keinen "zweiten Manuel Neuer" brauchen: "Man braucht einen eigenen Namen. Wenn einer kommt, muss der nicht verglichen werden." Ein zweiter Neuer in der Riege der Bayern-Keeper wäre ja irgendwo auch langweilig.