Der Kahn-Komplex

Nach den Patzern von Michael Rensing beginnt beim FC Bayern die Torwart-Debatte. Uli Stein ist sich sicher: Vier Tore waren haltbar.
MÜNCHEN Der Mann hat aber auch ein Dusel – dachte man. Es war zu Beginn des Spiels gegen Werder Bremen, als Bayern-Torhüter Michael Rensing seine dritte Aluminium-Hilfe hintereinander bekommen hatte. Claudio Pizarro hatte den Ball über ihn hinweg an den Pfosten geschossen. Rensings Glück schien sich zur Glückssträhne auszudehnen. Zwei Mal Pfosten in Bukarest, samt Slapstick-Parade, nun das Arena-Dusel.
Es sollte eine Momentaufnahme bleiben. 90 Minuten später hatte Rensing sein erstes Bundesligaspiel verloren. Okay, Vorgänger Oliver Kahn war dies freilich viel öfter passiert, aber nie hatte er im Bayern-Trikot fünf Stück kassiert. Kommentarlos verließ Rensing die Arena. Als anderer Keeper. Er war nicht mehr der, der er vorher war.
Nicht mehr der Kronprinz von Oliver Kahn. Der Hoffnungsträger. Derjenige, der über acht Jahre aufgebaut worden war, dem nun Vertrauen geschenkt wurde. „Natürlich sind die Handschuhe eines Oliver Kahn riesig“, hatte Karl-Heinz Rummenigge kürzlich gesagt und auch das Bild der langen Fußstapfen bemüht. Gegen Werder verbrannte sich Rensing alle Finger. Vor allem bei Flanken wirkt Rensing fahrig und zappelig. Wild entschlossen wirft er sich in die Bälle – wie beim 0:5 ohne Erfolg. Nicht sein einziger Patzer. „Bis auf das erste waren alle Gegentore haltbar. An einem guten Tag hält Rensing vier von fünf“, sagte Ex-Nationaltorhüter Uli Stein der AZ und ging in die Einzelanalyse: „Beim 0:2 klatscht er nach vorne ab, Özils Schuss zum 0:3 darf nicht drin sein, weil es das kurze Eck ist – durch das Übergreifen kommt er zu spät. Bei Pizarros Tor zum 0:4 wird er getunnelt, es ist es das Torwarteck. Und die Flanke zum 0:5 legt er Rosenberg auf den Fuß.“
Sicher, Rensing wurde von seiner Abwehr im Stich gelassen. Nach den Gegentoren tobte er, brüllte, ruderte mit den Armen. Ein Kahnchen. Doch Rensings Wutausbruch interessierte keinen Mitspieler. Er sah erst unbeholfen aus, dann hilflos. Er hat noch nicht den Respekt der Kollegen. Undenkbar auch, dass Daniel van Buyten – wie am Samstag mit Rensing geschehen – sich je getraut hätte, Kahn auf dem Platz lautstark anzumotzen.
„Mir fehlt bei ihm die Ausstrahlung“, sagte Stein. „Die Erwartungshaltung ist einfach zu groß.“ Und auch der Schatten seines Vorgängers. Rensing und der Kahn-Komplex. Stein fragt: „Hat Bayern die Geduld oder ziehen sie die Reißleine? Haben sie die Nerven, das mit ihm durchzuziehen?“ Vorerst ja.
Bislang ist es ordentlich gelaufen für Rensing. Auch wenn Präsident Franz Beckenbauer meinte, er warte noch darauf, dass der Torwart mal „einen Unhaltbaren“ halte. Dennoch: Die Bilanz war solide. Kein derber Patzer, kein Flattern. Ein zu Null in Köln, ein zu Null in Bukarest – es schien zu laufen für ihn. „Ein geiles Gefühl“, sei es, die Nummer eins beim FC Bayern zu sein, meinte er kürzlich. Nun bekommt er zu spüren, wie groß der Druck wirklich ist, von dem Kahn immer sprach. Die nächsten Spiele werden Rensing-Spiele.
Trainer Jürgen Klinsmann nahm ihn vorsorglich in Schutz. „Nach Olli die Karriere zu starten, ist alles andere als einfach, aber er nimmt das super an, er entwickelt sich toll, und wenn mal einer daneben geht, geht er daneben. Ist kein Problem.“ Könnte aber eins werden. Für Rensing brechen die entscheidenden Wochen seiner Karriere an. Flattert er oder packt er’s? „Es gibt gar keinen Torwart, der ohne Fehler gespielt hat“, sagte Klinsmann, „er wird normal seinen Weg gehen, er wird Konstanz aufbauen, er wird den einen oder anderen Fehler machen.“
Und wenn er zu viele macht – dafür haben die Bayern vorgesorgt. Mit Jörg Butt (34 Jahre, 324 Bundesligaspiele) wurde ein erfahrener Stellvertreter verpflichtet.
P. Strasser, T. Klein