FC-Bayern-Aus von Oliver Kahn: Was hinter den Kulissen passierte

München - Tempora mutantur – die Zeiten ändern sich. Und damit ändern sich auch oft die Einschätzungen. Was einst einem Liebesbekenntnis gleichkam, entpuppt sich im Rückblick oft als Lippenbekenntnis. Worte, die einst voller innerer Überzeugung gesprochen wurden, sind im Rückblick – bei dem man ja eigentlich immer eine hundertprozentige Sehschärfe hat – eine hohle Phrase.
Eine kleine Zeitreise zum 6. Januar 2020: In der Allianz Arena, in der Oliver Kahn in kurzen Torhüter-Hosen für Glanzparaden verantwortlich war, wurde der Titan, der Vul-Kahn, der Oli, die Bayern-Ikone – nun in Anzug und weißem Hemd – als neues Vorstandsmitglied vorgestellt. Kahn hatte zuvor sein Autogramm unter einen Fünfjahresvertrag gesetzt und getwittert: "Ich bin so glücklich, zu diesem Klub und in die FCBayern-Familie zurückzukehren. Pack ma's!" Den Beitrag ergänzte er mit den Hashtags "MiaSanMia" und "WeiterImmerWeiter".
Kahns Rückkehr: Die heile FC-Bayern-Welt
Das Bayern-Credo und das Kahn-Motto – es schien füreinander geschaffen, füreinander bestimmt. Und Karl-Heinz Rummenigge, den Kahn Ende 2021 als Vorstandsvorsitzenden beerben sollte, der sich dann aber bereits im Juli zurückzog, meinte: "Oliver wird seine Erfahrung als früherer Weltklassespieler und inzwischen auch top vernetzter Geschäftsmann einbringen. Oliver wird uns bereichern. Wir werden gut zusammenarbeiten." Die heile Bayern-Welt.
Präsident Herbert Hainer erklärte staatsmännisch: "Eine weitsichtige Nachfolgeplanung ist ein zentrales Element eines jeden Unternehmens. Wir haben im Aufsichtsrat ein Profil erstellt für den perfekten Nachfolger von Rummenigge. Er soll Fußballkompetenz haben, er soll das Bayern-Gen besitzen und Wirtschaftskompetenz haben. Bei Kahn sind wir schnell zum Schluss gekommen, dass er diese Dinge vereint. Er hat die Werte des FC Bayern als Spieler gelebt, wie kein anderer." Salbungsvolle Worte.
Oliver Kahn über seine Entlassung: "Das war der schlimmste Tag meines Lebens"
Wieder ab in die Zeitmaschine: Zum 27. Mai 2023. Bayern holte am letzten Spieltag noch die nicht mehr für möglich gehaltene elfte Meisterschaft in Serie. Danach verkündete der Klub, dass er sich mit sofortiger Wirkung von Kahn und Sportvorstand Hasan Salihamidzic trennt. So weit, so gut, so halbwegs normal. Was folgte, ist eine gegenseitige Besudelung des Ansehens, die eher an andere Klubs in München erinnert.
Auch dazu haben die alten Lateiner schon viel gesagt. "Si tacuisses, philosophus mansisses – wenn du geschwiegen hättest, wärest du Philosoph geblieben", postulierte einst der Politiker, Philosoph, Theologe Anicius Manlius Severinus Boethius. Erst hatte Kahn den Twitter-Finger nicht unter Kontrolle, behauptete, dass ihm der Verein "untersagt" habe, nach Köln zu reisen, dann legte er bei Sky nach: "Das war der schlimmste Tag meines Lebens, es mir zu nehmen, mit den Jungs zu feiern."
Das Aus war keine Überraschung: Oliver Kahn war nie einer, der alle liebt
Natürlich ließ sich Bayern die Deutungshoheit der Demission nicht aus der Hand nehmen. Plötzlich ging es darum, wer wann, wie laut, mit wem gesprochen hat, wer wie emotional gewesen ist, ob Handgreiflichkeiten im Raum gestanden hätten. Auf beiden Seiten fielen die Gutmenschen-Masken. Aber was genau ist in diesen drei Jahren passiert?
Warum wurde der mit so viel Vorschusslorbeeren bedachte Kahn fast zu einer Persona non grata an den Säbener Straße? Warum wurde der Mann, der den Satz "Eier, wir brauchen Eier" formuliert hat, öffentlich enteiert? Um es zynisch zu formulieren: Kahn hat die Arbeit aufgenommen. Er war immer ein Mann, der überzeugt war, dass ausgetretene Wege nicht zum ultimativen Erfolg führen. Kahn war nie einer, der alle liebt und keiner, der von allen geliebt werden wollte. Ihm ist das Fraternisieren fremd, er pinselt eben keine Bäuche.
Uli Hoeneß klagt: "Oliver hat mich in der ganzen Zeit vielleicht fünfmal angerufen"
"Ich habe kürzlich nachgesehen: Oliver hat mich in der ganzen Zeit vielleicht fünfmal angerufen", sagte Bayerns Ehrenpräsident Uli Hoeneß in der "SZ": " Es ist völlig legitim, sich freizuschwimmen. Nur warum zum Beispiel auf den Rat eines Mannes wie Karl-Heinz Rummenigge verzichten, der so viel über Bayern weiß?"
Und im "Kicker" sagt der Klub-Patron: "Die große Enttäuschung liegt darin, dass ich gedacht habe, Kahn könnte das Amt qua seiner Persönlichkeit allein ausfüllen, doch er hat sich stattdessen mit seinen Beratern umgeben."
Umgang von Kahns Büroleiter sorgt für Kopfschütteln
Er vertraute den Vertrauten, aber die sind rar. Peter Ruppert oder Daniel Hoegele, Leiter des von Kahn angetriebenen Projekts "FC Bayern AHEAD", und Moritz Mattes – offiziell Büroleiter, in realitas aber Kahns engster Vertrauter. Beide gründeten einst die Firma Goalplay. Der nassforsche Umgang von Mattes mit den Mitarbeitern sorgte für Kopfschütteln - genau wie das Projekt FC Bayern AHEAD.
"Mit dem Strategieprojekt 'FC Bayern AHEAD' sollen die Stärken des FC Bayern ausgebaut und ganz gezielt Verbesserungspotenziale ausgeschöpft werden. Wir brauchen eine ganzheitliche Klubstrategie, die Komplexität reduziert und Orientierung gibt", so der viel- und gleichzeitig nichtssagende Text von Kahn. Er versteckte sich hinter dieser entemotionalisierten, pseudowissenschaftlichen Sprache. In der Bayern-Doku "Behind the legend" bei Amazon Prime sieht man, wie in der AHEAD-Gruppe Collagen auf Flipcharts geklebt werden.
Eine funktionierende Marke wie den FC Bayern sollte man im Kern nicht antasten
Innovativ? Zukunftsweisend? Modern? Fragen, die sich vielen Mitarbeiter aufdrängten. Denn: Nicht jeder neue Besen fegt gut. Ja, wer zukunftsfähig sein will, muss sich erneuern, hinterfragen. Stillstand ist Rückschritt in einer sich stetig entwickelnden Welt, das hatten sie bei den Bayern erkannt. Aber Änderungen nur der Änderungen willen, ist eben nur purer, sinnentleerter Aktionismus.
Eine funktionierende Marke sollte man im Kern nicht antasten – sonst verliert man die Menschen, intern wie extern. Der Frust war plötzlich ein nicht gerngesehener – aber ständiger – Gast an der Säbener Straße. Sportlicher Frust, menschlicher Frust. Auf allen Seiten. Bei den Bossen, den Mitarbeitern, aber eben auch bei Kahn selber.
Präsident Herbert Hainer: "Das ist nicht der FC Bayern, wie wir uns das vorstellen"
Er, der so einen trockenen, selbstironischen Humor hat, der so laut, so herzlich und herzhaft lachen kann – auch und gerade über sich selbst –, wurde in seiner Zeit im Bayern-Vorstand immer verbissener, verkniffener. Seine Gesichtszüge versteinerten, jede Leichtigkeit des Seins, die er privat verkörpern kann, war ihm völlig abhandengekommen.
"Auf der einen Seite war es die Art, wie wir in der Rückrunde gespielt haben. Das ist nicht der FC Bayern, wie wir uns das vorstellen. Und das andere war, dass es innerhalb der Mitarbeiterschaft an der Säbener Straße eine gewisse Verunsicherung gab. Die haben wir als Warnsignal empfunden", sagte Hainer, der damit den Schwarzen Peter an Kahn weiterreichte.
Uli Hoeneß schießt gegen Oliver Kahn: "Katastrophal schlechte Stimmung"
Es hakte – auf vielen Ebenen. "Oliver hatte seine Rolle für sich so definiert, dass er sich aus dem Sport weitgehend rausgehalten hat. Dabei ist der die Hauptaufgabe. Unser Produkt ist Fußball. Man kann jede Firma neu aufstellen und alles anders machen, das ist völlig legitim – aber man muss Erfolg haben", sagte Hoeneß, der die "zu unbefriedigende Gesamtentwicklung", anprangerte. Bei Kahn habe sich das "leider alles nicht so entwickelt, wie wir uns das vorgestellt haben. Das habe ich so nicht erwartet." Er hatte eine "katastrophal schlechte Stimmung" ausgemacht.
Da spielte die Entlassung von Trainer Julian Nagelsmann eine entscheidende Rolle. Klar, dieser gab viel Angriffsfläche, intern wurde gerade die Beziehung zur damaligen "Bild"-Reporterin Lena Wurzenberger mehr als kritisch gesehen. Aber die Art, wie Nagelsmann, der noch die Chance hatte, Bayern das dritte Triple zu bescheren, abserviert wurde, stieß Hoeneß säuerlichst dauerauf. "Niemand" habe davon gewusst, "auch Hainer wurde als Aufsichtsratsvorsitzender viel zu spät informiert.
Nur Erfolg heiligt beim FC Bayern die Mittel
Und so etwas geht einfach nicht. Am Mittwoch vor der Trennung stand Hasan bei mir vor der Tür und hat gesagt: 'Wir wollen das machen, und eigentlich haben wir das auch schon entschieden.' Ich sagte: 'Wenn ihr das partout machen wollt' – er sagte: 'Ja, das wollen wir'' –, dann müsst ihr darauf achten, dass alles sauber abläuft." Es lief aber mindestens so unsauber ab wie jetzt die Trennung von Kahn. Noch bevor man Nagelsmann über seine Entlassung informiert hatte, wurde diese publik – der absolute PR-Super-GAU für den FC Bayern.
Salihamidzic und Kahn hatten mit der Hauruck-Hire-and-fire-Aktion ihr eigenes Schicksal auf Gedeih und Verderb mit dem Erfolg von Nagelsmann-Nachfolger Thomas Tuchel verknüpft. Der Erfolg blieb aus – im Pokal gescheitert, Aus in der Champions League, die Meisterschaft mehr der Dortmunder Angst vor dem Erfolg zu verdanken als dem eigenen Können oder Geschick. So war das Ende von Kahn beim FC Bayern besiegelt. Nicht der Zweck, nur Erfolg heiligt bei Bayern die Mittel.