Das Märchen vom „One Touch“

Fußball-Analytiker Loy über das Geheimnis der Torflut – und die Fehler der Offensiv-Strategen.
Abendzeitung |
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
0  Kommentare
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News
Gibt Schweinsteiger taktische Anweisungen: Coach Jürgen Klinsmann.
dpa Gibt Schweinsteiger taktische Anweisungen: Coach Jürgen Klinsmann.

Fußball-Analytiker Loy über das Geheimnis der Torflut – und die Fehler der Offensiv-Strategen.

AZ: Herr Loy, Sie sind Fußballanalytiker. Fahren Sie bei Anpfiff den Rechner hoch, wenn andere ein Bier aufmachen?

ROLAND LOY: Das könnte man so sagen. Allerdings beobachte ich die Spiele mit Hilfe meines Analyseprogammes meistens erst, nachdem ich sie auf DVD aufgezeichnet habe. In den letzten 20 Jahren habe ich so alle Bundesliga-Tore lückenlos ausgewertet.

Momentan haben Sie viel Arbeit. In der Bundesliga fallen so viele Tore wie seit 20 Jahren nicht mehr. Sind die Stürmer so gut oder die Verteidiger so schlecht geworden?

Ein Erklärungsansatz könnte die von vielen Trainern praktizierte Raumdeckung sein. Die Grundüberlegung dabei ist, dass in Gefahrensituationen unmittelbar vor dem Tor die Gegenspieler zu wenig attackiert werden. Womöglich haben viele Spieler bei der Raumdeckung den Bogen überspannt und können nun nicht mehr umdenken. Aber womöglich kommen gerade dadurch spektakuläre Ergebnisse zustande.

Uli Hoeneß hat verwundert bemerkt, er hätte nicht gedacht, dass die Zuschauer so sehr nach Spektakel lechzen.

Spektakel ist im Grunde, was für einen Offensivfußball à la Klinsmann spricht. Die Leute sehen lieber ein 5:2 oder 3:3. Also ist das auch eine wirtschaftliche Überlegung: Wenn du Spektakel bietest, kommen die Zuschauer eher, als wenn du fünf Mal 0:0 spielst.

Ist die wenig spektakuläre „Die Null-muss-stehen"-Philosophie erfolgreicher als „Hurra-Fußball“?

Nehmen wir nur einmal den ehemaligen Bayern-Trainer Giovanni Trapattoni. Mit seiner ultra-defensiven Philosophie ist er, gemessen an den gewonnenen Titeln, zu einem der erfolgreichsten Vereinstrainer aller Zeiten aufgestiegen. Zudem ist wissenschaftlich erwiesen, dass häufiger jene Mannschaft Meister geworden ist, die wenige Gegentore kassierte, als jene, die am meisten Tore geschossen hat.

Warum propagieren Trainer wie Klinsmann und viele andere ständig Offensivfußball?

Als Trainer hat man natürlich ein ganz anderes Standing, wenn man attraktiv spielen lässt. Wenn ein Trainer neu eingestellt wird, sagt er sehr häufig, er wolle attraktiv spielen lassen. Das soll vor allem Aufbruchsstimmung symbolisieren und die Fans erfreuen. Klinsmann ist ja auch mit so einem Versprechen zu Bayern gekommen.

Der schnelle und attraktive One-Touch-Fußball ist also ein nettes Versprechen, bringt statistisch gesehen aber nichts?

Ich verstehe nicht, warum Klinsmann, Bierhoff oder Löw den englischen One-Touch-Fußball ständig zum Vorbild nehmen. Nur weil dort mit 1,4 Sekunden pro Ballkontakt gespielt wird? Ich habe tausende Untersuchungen dazu gelesen und an keiner einzigen Stelle einen verlässlichen Beweis dafür gefunden, dass der One-touch-Fußball erfolgversprechender ist als andere Spielweisen. Das zu behaupten, ist folglich wenig seriös!

Ihre eigenen Erkenntnisse zum ständig geforderten schnellen Spiel nach vorne?

Über je mehr Stationen ein Angriff vorgetragen wird, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit eines Tores. Angriffe, die nur über eine Station laufen, ziehen nur in gerade mal einem Prozent aller Fälle ein Tor nach sich. Angriffe, die über 13, 14 oder 15 Stationen vorgetragen werden, führen jedoch in sieben Prozent aller Fälle zum Torerfolg.

Trotzdem sind die englischen Teams derzeit erfolgreicher.

Sicher, aber wir wissen nicht, was die Ursache hierfür darstellt. Ist es das schnelle Spiel, oder sind es die herausragenden Einzelspieler wie ein Michael Ballack oder ein Christiano Ronaldo? Man muss wissen, dass nur etwa 1,6 aller Angriffe im Fußballsport zu einem Tor führen.

Hört sich nach sehr wenig an.

Extrem wenig. Und überall so. Auch bei Arsenal London sind es nur 1,6 Prozent aller Angriffe. Das heißt, auch das schnelle Spiel der englischen Teams führt in mehr als 98 Prozent aller Fälle nicht zum Torerfolg. Warum also England zum Vorbild nehmen?

Wenn Klinsmann sagt, wir werden die Fehler lückenlos analysieren – geht das überhaupt?

Ich habe über 3000 Fußballspiele in den letzten Jahren systematisch beobachtet. Meine Erkenntnis ist: Fußball an sich ist ein wahnsinnig komplexes Spiel, wir sind Lichtjahre davon entfernt zu wissen, wie es funktioniert und es trennen uns sogar ganze Galaxien davon zu wissen, wie der Erfolg im Fußball zustandekommt. Wenn wir ein Spiel analysieren, ist das wie durch ein Schlüsselloch zu schauen: Man kann nur einen winzig kleinen Ausschnitt eines wahnsinnig komplexen Systems sehen. Wie die einzelnen Ausschnitte gar zusammenhängen, das weiß bis heute kein Mensch.

Nach der Analyse weiß man also, dass man nichts weiß?’

Bis ins letzte Detail wird sich das Fußballspiel sicherlich nicht ergründen lassen, einen „gläsernen Spieler“ wird’s also nie geben. Aber diese Unkalkulierbarkeit ist es ja, die die Menschen für den Fußballsport begeistert. Was mich bei meinen persönlichen Analysen so fasziniert, ist, dass sich in diesem komplexen System immer wieder einzelne Ergebnisse finden lassen, die durchaus erfolgversprechend sein können.

Sie meinen Situationen wie Elfmeterschießen?

Ganz genau. Da gibt es klare Erkenntnisse: Die sicherste Art, einen Elfmeter zu verwandeln, ist, den Ball auf die obere Hälfte des Tores zu schießen. Das führt zu 99 Prozent zum Tor. Und dann ist es natürlich Quatsch, dass der Gefoulte nicht selbst schießen darf, zumal der Gefoulte wie jeder andere Schütze eine Erfolgsquote von 75 Prozent erreicht.

Welche altgediente aber unbewiesene Expertenmeinung regt Sie am meisten auf?

Ach, da gibt es viele: Eine wäre: „Sie müssen mehr über die Flügel spielen.“ Ich habe viele tausende Angriffe analysiert und herausgefunden, dass Angriffe über die Flügel zu ungefähr 1,6 Prozent zum Erfolg führen. Genauso hoch ist die Torwahrscheinlichkeit bei Angriffen durch die Mitte. Aber trotzdem stellen sich dann so genannte Experten ins Fernsehen und behaupten Dinge, von denen sie überhaupt keine Ahnung haben!

Übrigens nochmals Kompliment, dass Sie 1990 Deutschland zum WM-Titel verholfen haben.

Naja, das ist vielleicht doch etwas übertrieben…

...es heißt, Sie hätten damals Teamchef Franz Beckenbauer empfohlen, Guido Buchwald als Gegenspieler von Maradona aufzustellen?

Ich habe während der WM alle Stärken und Schwächen der Spieler für Beckenbauer analysiert, in Berichten zusammengefasst und nach Italien geschickt. Da war es dann naheliegend, Buchwald als den zweikampfstärksten Spieler des Turniers gegen Maradona aufzubieten. Maradona hatte dann auch nur einen einzigen Torschuss im Spiel. Beckenbauers „Geht's raus und spielts Fußball“ beruht auf sehr komplexen Analysen.

Wenn Sie so viel über Fußball wissen und das Spiel so perfekt analysieren – warum sind Sie dann nicht selbst Trainer geworden?

Ich glaube, die Schnelllebigkeit des Fußballgeschäfts entspricht nicht wirklich meiner Persönlichkeit. Ich habe ja die Trainer A-Lizenz gemacht. Aus heutiger Sicht und mit dem Wissen meiner Analysen würde ich allerdings einige Lerninhalte bei der Trainerschulung sehr hinterfragen.

Interview: Reinhard Keck

Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
0 Kommentare
Bitte beachten Sie, dass die Kommentarfunktion unserer Artikel nur 72 Stunden nach Veröffentlichung zur Verfügung steht.
Noch keine Kommentare vorhanden.
merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.