Chelsea statt Frau: Münchner ist seit 1978 Fan
München - Wenn man annimmt, dass die Beziehung eines Fußballfans zu seinem Verein so etwas ist wie eine Ehe, dann hat Andreas Ertl in seinem Leben schon dreimal geheiratet. Sein erster Klub, der FC Bayern, war eine Zwangsheirat. Die zweite Beziehung, zum TSV 1860, basierte auf Vernunft. Die dritte, mit dem FC Chelsea aus London, hält seit 1978. Es war Liebe auf den ersten Blick.
An jenem Dienstag, 31. Januar 1978, ist der Rasen an der Stamford Bridge in London total aufgeweicht vom Regen. Im Pokal trifft der FC Chelsea auf Burnley. Als die Gäste nach 29 Sekunden in Führung gehen, sitzt Andreas Ertl, 15, in seinem Hotelzimmer und studiert die Zeitungen. Der Löwenfan ist aus München nach London geflogen, um ein englisches Match zu erleben, die Fans mit ihrer Vereinstreue, ihre Lieder, die Stadien mit ihren wackeligen Holztribünen im Mutterland des Fußballs.
Aber wo? Die Stamford Bridge, das Chelsea-Stadion, liegt am nächsten, zur zweiten Halbzeit quetscht sich Andreas Ertl auf die Tribüne. Chelsea siegt mit 6:2. Um Andreas Ertl ist es geschehen.
„Der Löwe im Wappen, die Vereinsfarbe Blau, das hat alles perfekt gepasst”, sagt er. Immer öfter reist er nach London, um seine Blues zu sehen. In München nennen sie ihn nur noch „Chelsea-Andy”, und wenn er von seinen Ausflügen und der Stamford Bridge erzählen, fragen: „Wo is’n des?” Er ist dabei, als der Verein fast in die dritte Liga absteigt, bejubelt später Cupsiege und Meisterschaften. Nichts verglichen mit dem Spiel, das am Samstag um 20.45 Uhr in der Allianz Arena angepfiffen wird.
Für das Team des FC Chelsea mit seinen alternden Stars ist es die letzte Chance, ihre Ära mit einem Titel zu krönen. Die Bayern können als erstes Team überhaupt den Wettbewerb im eigenen Stadion gewinnen. Und für Chelsea-Andy? „Es ist das Spiel meines Lebens”, sagt er, sein ultimativer Traum: seine Mannschaft in seiner Heimatstadt gegen den roten Erzfeind.
Wenn er über das Finale spricht, funkeln seine Augen. Nur das Ticket fehlt dem 49-Jährige mit dem tätowierten Chelsea-Emblem am linken Oberarm, das mit den Jahren blass geworden ist. „Aber ich bin im Stadion. Auf jeden Fall.” Wenn es sein muss, sogar im Bayern-Block. Da hat schließlich alles angefangen.
Andreas Ertl kann sich an ein Leben ohne den Fußball gar nicht mehr erinnern. „Ich war schon immer verrückt nach dem Ball, als kleiner Bub habe ich meine Sonntagsschuhe durchgekickt.” Die Familie hält zum FC Bayern, also verfolgt Andreas Ertl seine ersten Spiele mit rotem Wimpel in der Hand und rotem Kapperl auf dem Kopf im Olympiastadion. Bis er mit zwölf Jahren die Seiten wechselt. Er wird in die Jugendmannschaft der Löwen aufgenommen, steht als Balljunge am Spielfeldrand und später im Block. In seinen Jugendjahren ist er in der Löwenkurve berüchtigt, einer der Härtesten. „In der deutschen Fußballszene bin ich kein unbeschriebenes Blatt.”
Manchmal wünscht er sich die alten Zeiten zurück. Als er in Bummelzügen im durchgeschwitzten Trikot durch die Republik gondelte. Ein Außenseiter in der Zeit vor der Kommerzialisierung des Spiels. Bevor der Fußball erst gesellschaftsfähig und dann trendy wurde. In Deutschland, in England. Vor allem aber beim FC Chelsea, seit der russische Öl-Milliardär Roman Abramowitsch den Klub übernommen hat. „Mir sind zu viele Erfolgsfans und Touristen im Stadion”, sagt Chelsea-Andy. Manchmal sagt er auch „Modefans”, das klingt bei ihm wie ein Schimpfwort.
40 Pfund, etwa 45 Euro, kosten die günstigsten Tickets. Seit der Ära Abramowitsch sieht man Chelsea-Andy hier nur noch selten. Das Drumherum, die Touristen: ein Graus. Er hat sich auf den Europapokal verlegt. „Auf Zypern oder in Tel Aviv sind nur die echten Fans dabei”, sagt er. Hier fühlt er sich wohl, man kennt sich seit Jahren, Jahrzehnten. Und auch bei den Europareisen geht viel Geld drauf, das er als Angestellter bei einem Versicherungskonzern verdient.
Dass er auch Merchandise-Klamotten seines Klubs trägt und den Kommerz mitmacht, könnte man man Chelsea-Andy jetzt entgegnen. Aber er hat kaum andere Kleidung.
Und was, wenn Abramowitsch irgendwann keine Lust auf sein Fußballspielzeug mehr hat und der Klub abstürzt? „Ich fahre weiter hin.” Selbst wenn es die unterste Liga ist.
Aber jetzt ist erstmal Finale. Manchmal, sagt er, kann er kaum glauben, dass es wahr ist. Am Samstag wird er früh aufstehen, durch die Stadt schlendern, auf den Marienplatz schauen, Freunde aus London und seine „stockroten” Brüder Christian und Werner treffen, alles aufsaugen. „Es wird unvergesslich. Egal, wer gewinnt.” Und wenn Chelsea den Cup holt? „Daran darf ich gar nicht denken.” Da ist es wieder, das Funkeln in seinen Augen. Dann, das hat er sich überlegt, würde er sich vielleicht ein zweites Mal tätowieren lassen. Ein Motiv mit Chelsea-Emblem, der Frauenkirche und dem Cup-Sieg.
„Ich habe keine Frau, ich hab’ Chelsea”, hat er vor ein paar Jahren gesagt. Ein bisschen überspitzt ist dieser Spruch schon, findet er. Eine Frau hat Chelsea-Andy trotzdem nicht. „Ich mach’ da keine Kompromisse. Chelsea lass’ ich mir nicht nehmen. Da bleib’ ich lieber allein.” Mit dem FC Chelsea, der Liebe seines Lebens. Es knistert immer noch. Ganz besonders an diesem Samstag, dreiviertelneun, Fröttmaning.