Biografie "Mensch, Kaiser": Das bewegte Leben von Franz Beckenbauer (†78)

München - In den Jahren vor seinem Tod war es still geworden um Franz Beckenbauer. Nach dem Tod seines Sohnes 2015, den Enthüllungen um die Vergabe der WM 2006 und aufgrund von schweren gesundheitlichen Problemen hat sich die größte Persönlichkeit des deutschen Fußballs immer mehr aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Am 7. Januar 2024 ist Franz Beckenbauer im Alter von 78 Jahren in Salzburg gestorben.
In der am 29. September 2023 erschienenen Biografie "Mensch, Kaiser – Lichtgestalt mit Schattenseiten" beleuchtet AZ-Autor Florian Kinast die Höhen und Tiefen, die sich schon immer durch Beckenbauers Leben zogen und schildert in detailreichen Erzählungen neben seinen Erfolgen als Spieler und Teamchef auch seinen jahrzehntelangen Kampf um Respekt und Wertschätzung.
Das Buch beleuchtet seine großen Leistungen auf dem Fußballplatz, aber auch seine Nähe zu den Mächtigen der bayerischen Politik, seine Ausflüge in Hochkultur und Gesellschaft, die ihm manchmal das Ansehen eines kosmopolitischen Weltmanns einbrachten - und andere Male den Ruf eines Gockels aus Giesing. Die AZ präsentiert eine fünfteilige Serie. Hier Teil 1 – aus Kindheit und Jugend.
September 1945: Das Leben von Franz Beckenbauer beginnt mit Widersprüchen
Vier Monate nach Kriegsende 1945. Am 8. September kehrt das Volkstheater mit der Hammelkomödie von Hans Hiller auf die Bühne zurück. Am 9. September ordnet die amerikanische Militärregierung eine Gebäudezählung an. Am 10. September startet Radio München seine neue Sendereihe. Englisch macht Spaß, ein Sprachkurs, zweimal eine Viertelstunde am Tag. Am 11. September setzen bei Antonie Beckenbauer die Wehen ein.
Mit wem die damals 32-jährige Hausfrau von Obergiesing aus aufbricht, und wie sie die fünf Kilometer entfernte Entbindungsklinik in der Maxvorstadt erreicht, darüber wird sie selbst in späteren Jahren unterschiedliche Versionen erzählen. Mal ist sie mit ihrer Schwester Leni unterwegs, mal allein. Mal geht sie zu Fuß und fährt mit der Tram, mal chauffiert sie ein amerikanischer Militärjeep in die Klinik. Bezeichnend, das das Leben von Franz Beckenbauer schon vor der Geburt mit Widersprüchen beginnt.
Walter Beckenbauers erste Reaktion auf Brüderchen Franz: "So ein Eierkopf"
Am späten Abend bringt Antonie Beckenbauer ihr zweites Kind zur Welt. Einen Franz. "Er hat sich so auf die Welt geschwindelt", wird sie einmal sagen. Viele Jahrzehnte später wird auch Walter Beckenbauer, der 1941 geborene ältere Bruder, in einem Gespräch mit der "Abendzeitung" von der ersten Begegnung mit dem kleinen Franzl erzählen.

Entsetzt sei er gewesen, als er ihn das erste Mal gesehen habe, so habe es ihm seine Mutter immer wieder berichtet. Und: "Dass sie ihn aus dem Krankenhaus heimgeschleppt hat, die Treppe hoch in den vierten Stock, und ich, als ich in die Tragetasche reingeschaut hab, gesagt habe: So ein Eierkopf." Während die Mitbewohner im Mietshaus Mama Antonie beglückwünscht hätten zu diesem ach so außerordentlich feschen Buben, so erzählt es Walter, habe er sich zurückgezogen. Aus Groll, aus Eifersucht, mit dem Gedanken: "Steigt's mir doch alle auf den Hut."
Mit im Haushalt wohnen neben Papa Franz und Mama Antonie, dem Walter und dem Franz auch Oma Katharina Beckenbauer, die Mutter von Franz senior – und dazu auch noch die im Krieg aus ihrer Wohnung rausgebombte Tante Frieda, die mit ihren beiden Söhnen bei ihrem Bruder Franz Zuflucht fand.

Fließend Wasser gibt es nicht, die Toiletten sind draußen zwischen den einzelnen Etagen – zum Wäschewaschen geht Mama Antonie die zehn Fußminuten zu einer Waschstelle am Walchenseeplatz. Niemand jammert, man ist froh, überhaupt eine Bleibe zu haben. Wenn sie im strengen Winter hochgehen in die vierte Etage, steigen sie über Fremde, über Obdachlose, die im Treppenhaus wenigstens im Trockenen sitzen wollen und dort dann auch gleich nächtigen. Das Elend: Alltag.
Afrika, Australien, Amerika: Die Sehnsucht des Franz Beckenbauer nach fernen Gefilden
Umso heiliger sind dem Walter und dem Franzl vor allem die Abende, wenn sie wenigstens einmal in der Woche in einem Bottich mit heißem Wasser warm baden können – und sie sich danach zusammen im Wohnzimmer um das Holzradio scharen, aus dem heraus Fred Rauch seit 1947 das Wunschkonzert moderiert. Glückliche Momente im Hause Beckenbauer. Lehrstunden in Dankbarkeit und Demut.
Brav und schüchtern wirkt der Franz überhaupt in seinen ersten Jahren, manchmal auch ängstlich. Wenn ihm die Eltern auftragen, die Kohlen oder die Kartoffeln aus dem Keller zu holen, weigert er sich. Allein mag er nicht gehen, aus Furcht vor der Düsternis da unten. Nur wenn der Walter mitgehe. Franz baut sich seine eigene Welt, gern klebt er Bilder ins Sammelalbum der Margarinemarke Sanella, es sind Motive aus fernen Ländern und Kontinenten. Afrika, Australien, Amerika.
Beim Kicken auf der Straße zeigte sich das Talent von Franz Beckenbauer
"Mich hat das interessiert, wie schaut es dort aus", sagt er später in einem Interview. "Die Sehnsüchte waren von klein auf da, Fernweh sagt man heute." Zu den engsten Vertrauten vom Franz zählt in jener Zeit ein Schulfreund aus der Nachbarschaft, der Steiner Wolfi. Mit ihm kauft er sich für ein Fünferl manchmal eine Pit-Brause, und wenn sie mal ganz viel Taschengeld gespart haben, leisten sie sich auch einen Kinobesuch in den Wendelstein-Lichtspielen in der gleichnamigen Straße.
Für stolze 65 Pfennig. Oft verstecken sie sich nach einer Vorstellung unter den Sitzen, um für den nächsten Film auch noch zu bleiben, beim Double Feature halbiert sich der Preis. Am liebsten aber spielen sie Fußball, gern auch in der Wohnung der Beckenbauers im Gang.
Probleme hat der junge Franz Anfang der Fünfziger Jahre vor allem bei der Integration in die Bowazus – einer Clique von älteren Straßenkickern aus dem Jahrgang seines Bruders. Alle aus der Bonifatius-, Watzmann- und Zugspitzstraße, daher der Name, meist spielen sie fünf gegen fünf.
Den größeren Burschen ist der Franz ein zu kleiner Pimpf, meistens schicken sie ihn hinter das mit Schultaschen oder Tüten abgesteckte Tor, da ist er gut aufgeräumt und kann wenigstens immer das Spielgerät zurückapportieren, wenn einer mal wieder den Ball in Richtung Herzogstandstraße gejagt hat.

Wenn einmal aber einer aus der Clique fehlt, lassen sie den Franz von Bowazus Gnaden dann halt doch mal mitspielen. Und tatsächlich stellt sich der kleine Bruder vom Walter gar nicht so deppert an, wie alle befürchteten. Da ist einer, der kann ganz gut kicken. Und so geht der Franz im Frühjahr 1954 dann mal rüber zu den Sechsern.
Lesen Sie weiter im Buch, wie ein beinamputierter Kriegsveteran zu Beckenbauers erstem Förderer beim SC 1906 wurde, wie der Franz seinen Opa mit seinen vielen Toren in der Jugend des FC Bayern fast an den Bettelstab brachte und warum ihn sein Trainer Rudi Weiß zum Autowaschen verdonnerte.

Florian Kinast: "Mensch Kaiser - Lichtgestalt mit Schattenseiten". Lübbe Life, 287 Seiten, ISBN: 978-3-431-07057-6
Hinweis: Die Serie wurde bereits im September 2023 anlässlich der Publikation der Biografie über Franz Beckenbauer auf abendzeitung.de veröffentlicht und ist nun nach dem Tod des Kaisers geupdatet worden.