Bayern und das Drama von Barcelona - „Die schlimmstmögliche Niederlage“

Am 26. Mai 1999 in Barcelona verliert Bayern das Champions-League-Finale in der Nachspielzeit. Zehn Jahre danach erklärt Lothar Matthäus die grausame Pleite - und seine umstrittene Rolle dabei.
von  Abendzeitung
26. Mai 1999 in Barcelona: Schnell streift Lothar Matthäus die Verlierer-Medaille wieder ab
26. Mai 1999 in Barcelona: Schnell streift Lothar Matthäus die Verlierer-Medaille wieder ab © Rauchensteiner/Augenklick

MÜNCHEN - Am 26. Mai 1999 in Barcelona verliert Bayern das Champions-League-Finale in der Nachspielzeit. Zehn Jahre danach erklärt Lothar Matthäus die grausame Pleite - und seine umstrittene Rolle dabei.

AZ: Herr Matthäus, ein Fußballspiel hat 5580 Sekunden, drei Minuten Nachspielzeit eingerechnet. Wie oft denken Sie an die 120 Sekunden des 26. Mai 1999 in Barcelona?

LOTHAR MATTHÄUS: Nicht so oft. Aber ich werde natürlich ständig drauf angesprochen. Das war ja kein normales Fußballspiel.

Fürwahr. Mehr Drama geht nicht. 90 Minuten waren vorbei, da hatte immer noch das 1:0 durch Mario Baslers Freistoß nach sechs Minuten Bestand. Es begann die Nachspielzeit. Es begann die Zeit von Manchester United.

Aber das war nicht entscheidend. Wir hätten den Sieg vorher schon locker nach Hause fahren müssen. Wir hatten klare Chancen auf das zweite, dritte oder sogar vierte Tor – das wurmt immer noch.

Ein Pfostenschuss von Scholl, ein Fallrückzieher an die Latte von Jancker – für Sie schlimmer als die 102 Sekunden mit den K.o.-Treffern von Sheringham und Solskjaer?

Alles, was dann passiert ist, wäre uns erspart geblieben.

Sie wurden in der 80. Minute ausgewechselt. Hinterher kam der Vorwurf aus, Sie hätten sich aus der Verantwortung gestohlen.

Das stimmt nicht. Ich hatte ja schon ein gewisses Alter erreicht und war nach 70, 75 Minuten einfach müde. Aufgrund einer taktischen Umstellung hat mich unser damaliger Trainer Ottmar Hitzfeld vor die Abwehr ins Mittelfeld gestellt, da muss man viel mehr laufen. Mein Körper hat das nicht verkraftet, ich war ausgelaugt und gab Hitzfeld ein Zeichen.

Für Sie kam Torsten Fink. Und der verursachte in der ersten Minute der Nachspielzeit diesen unglücklichen Querschläger – das 1:1.

Diese Auswechslung ging zuvor 20, 25 Mal gut. An diesem Abend nicht.

Sie waren auf der Ersatzbank. Wie haben Sie die 102 Sekunden erlebt?

Auf der Bank herrschte totale Unruhe, alle waren aufgewühlt, nervös, voller Vorfreude, keiner konnte stillsitzen. Ich habe mitbekommen, dass Mario (Basler, d.Red.), der in der 88. Minute ausgewechselt worden war, schon eine Sieger-Kappe trug und in die Kabine wollte, um die T-Shirts zu holen. Unser Betreuer Charly wollte aus der Kabine den Champagner-Kübel holen. Mir war das alles nicht recht. Mich hat das extrem gestört.

Warum? Es fehlten nur diese lächerlichen drei Minuten zum Triumph.

Eben. Ich habe zu Mario und den anderen gesagt, nein gebrüllt, weil es so laut war: ,Männer, es ist noch nicht aus!’ Alle waren in Gedanken schon bei der Siegerehrung, haben gefeiert.

Und Sie wollen als beinahe Einziger cool geblieben sein?

Keiner hatte das Gefühl, dass wir dieses Spiel noch verlieren konnten. Aber ich wusste: Wir müssen den Schlusspfiff abwarten. Zu früh feiern ist das Grausamste, was es gibt. So kam es auch. Keiner konnte es glauben. Das war die schlimmstmögliche Niederlage aller Zeiten gewesen. Dagegen ist ein Elferschießen ja ein Witz – das ist meist nur Glücksspiel.

Haben Sie, wie etwa Sammy Kuffour, geweint?

Nein, ich konnte mich beherrschen. Das hilft einem auch nicht weiter.

Nach dem Bankett im Hotel „Barcelo Sants“ gab es zwei Gruppen: Manche wie Kapitän Effenberg oder Janker haben sich aufs Zimmer verzogen, andere wie Basler oder Babbel eine Party gestartet und auf den Tischen getanzt.

Nach so einem Ding konnte ich nicht die Sau rauslassen. Ich habe etwas Wein getrunken, aber ich war einfach nur fertig, leer. Aber ich musst mir keinen hinter die Binde kippen, das haben andere gemacht. Jeder muss das anders verarbeiten, seinen Frust bekämpfen.

Sind Sie früh ins Bett?

Gegen 2 Uhr.

Konnten Sie schlafen?

Nein, dafür hatte ich zu wenig getrunken. Außerdem ging mir alles nochmal durch den Kopf.

Wie oft haben Sie die Bilder von 1999 gesehen?

Ab und zu. Aber ich will's nicht mehr sehen.

Interview: Patrick Strasser

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