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AZ-Serie zu den krassen Zweier-Jahren: Als der Titan ein Mensch wurde

Bei der WM 2002 hält Oliver Kahn unmenschlich und wird zum besten Spieler des Turniers gekürt, doch im Finale gegen Brasilien patzt er entscheidend. "Mein einziger Fehler wurde brutal bestraft", sagte der Titan danach.
von  Hartmut Scherzer
Die große Leere: Deutschlands Torhüter Oliver Kahn patzt im WM-Finale schwer, Brasiliens Ronaldo trifft entscheidend beim 2:0-Sieg. "Es gibt keinen Trost in so einer Situation. Ich muss damit leben", sagt er.
Die große Leere: Deutschlands Torhüter Oliver Kahn patzt im WM-Finale schwer, Brasiliens Ronaldo trifft entscheidend beim 2:0-Sieg. "Es gibt keinen Trost in so einer Situation. Ich muss damit leben", sagt er. © imago images / AFLOSPORT

Yokohama - Als hätte Hollywood Regie geführt und den Showdown inszeniert: Kahn gegen Ronaldo. Teufelskerl gegen Zauberfüßler.

Das direkte Duell Mann gegen Mann entscheidet dieses wunderbare Endspiel von Yokohama. Der deutsche Torhüter und der brasilianische Torjäger sind in dem 31-tägigen Turnier die beiden bewunderten Superstars. Die magischen Hände Kahns und die trickreichen Füße Ronaldos haben entscheidend dazu beigetragen, dass die beiden Giganten Brasilien und Deutschland sich erstmals bei einer Weltmeisterschaft begegnen - und das gleich im Finale. Das historische Datum: vor zwanzig Jahren, am 30. Juni 2002.

Ein "fußballsportlicher Treppenwitz"

Plötzlich stehen sich der beste Torhüter und der beste Stürmer der Welt gegenüber: Auge in Auge. Einen "fußballsportlichen Treppenwitz" wird die "Süddeutsche" die Szene in der 67. Spielminute nennen, die das famose Endspiel vor 70 564 Zuschauern vorzeitig entscheidet und die Seleção zum fünften Mal zum Weltmeister kürt.

Der Fehlerlose macht einen Fehler - den einzigen in 630 WM-Minuten. Der Flachschuss von Rivaldo aus zwanzig Metern wird zum Trauma seiner Karriere. Der Ball prallt Kahn von der Brust, schlüpft aus seinen Armen und kullert vor die Füße des heran sprintenden Ronaldo. Ein klassischer Abstauber.

Mit acht Toren WM-Schützenkönig: Ronaldo
Mit acht Toren WM-Schützenkönig: Ronaldo © GES/Augenklick

Es ist der Moment, als aus dem Torwart-Titan ein fehlbarer Mensch wurde. Das 2:0 zwölf Minuten später, abermals durch Ronaldo, ist nur die logische Folge. Die grandios spielenden Deutschen müssen bedingungslos stürmen.

Beim Schlusspfiff verharrt Kahn wie zur Salzsäule erstarrt im Tor. Voller Selbstvorwürfe lehnt der deutsche Titan am linken Pfosten.

Die Beine überkreuzt, starrt der Torhüter ins Leere durch die auf dem Platz herumtanzenden Brasilianer hindurch. Wie in Zeitlupe rutscht der Kapitän am Aluminium hinunter auf den Boden und bleibt mit angewinkelten Knien hocken.

Spieler beider Mannschaften, Teamchef Rudi Völler und selbst Schiedsrichter Pierluigi Collina versuchen, den Unglücklichen aufzurichten.

Zum fünften Mal Weltmeister: Die Seleção ist nach dem 2:0-Sieg gegen Deutschland mal wieder ganz oben.
Zum fünften Mal Weltmeister: Die Seleção ist nach dem 2:0-Sieg gegen Deutschland mal wieder ganz oben. © firo/Augenklick

"Es gibt keinen Trost in so einer Situation"

Vergebens. Thomas Linke schließlich zieht nach einer gefühlten Viertelstunde den Untröstlichen hoch.

Als Kahn kaugummikauend und mit ausdrucksloser Miene vor die Medien tritt, ist der rechte Ringfinger in einem Verband versteckt. "Bänderriss", teilt der 33-Jährige lapidar mit. Die Handverletzung habe mit seinem Patzer aber nichts zu tun. Kahn fühlt sich auf zynische Weise bestätigt: "Der Grat zwischen Held und Versager ist nirgendwo schmaler als beim Torwart. Mein einziger Fehler in sieben Spielen wurde brutal bestraft. Ausgerechnet im Finale. Das ist zehnfach bitter. Es gibt keinen Trost in so einer Situation. Ich muss damit leben."

"Ein Kahn lässt sich nicht trösten. Er muss da letztlich allein durch", sagt DFB-Teamchef Rudi Völler über den traurigen Torhüter (M.).
"Ein Kahn lässt sich nicht trösten. Er muss da letztlich allein durch", sagt DFB-Teamchef Rudi Völler über den traurigen Torhüter (M.). © picture alliance / dpa

In Rudi Völlers positivem WM-Fazit ("Wir haben uns sehr, sehr gut verkauft") steht Kahn im Mittelpunkt. Nicht wegen des Lapsus', sondern wegen der schier unglaublichen Paraden im Turnier. "Es war schon ein großer Erfolg, dass wir überhaupt die Vorrunde überstanden haben", verweist der Teamchef auf die Außenseiterrolle. Denn bei der EM 2000 war die Mannschaft unter Erich Ribbeck kläglich in der Gruppenphase gescheitert. Für die WM in Japan und Korea hatte sich Deutschland erst in den Playoffs der Gruppenzweiten gegen die Ukraine (1:1, 4:1) qualifiziert.

"Das eine oder andere Spiel war nicht so gut. Aber wir hatten einen tollen Torhüter", sagt Völler in seiner Bilanz. "Olli braucht sich keine Vorwürfe machen. Fakt ist: Ohne Kahn wären wir nicht hier. Ich habe versucht, ihn zu trösten. Aber ein Kahn lässt sich nicht trösten. Er muss da letztlich allein durch."

Untröstlich ist auch Michael Ballack. Es ist die 71. Minute des Halbfinals gegen Korea in Seoul. Mit einem "taktischen Foul" bereinigt der künftige Bayern-Stratege einen Fehler von Torsten Frings und weiß sofort: Gelbe Karte (seine zweite im Turnier) des Schweizer Schiedsrichters Urs Meier.

Im Finale gelb-gesperrt: der zuvor famose Michael Ballack.
Im Finale gelb-gesperrt: der zuvor famose Michael Ballack. © picture alliance / dpa

Das Aus für das Endspiel. Auch ein Treppenwitz: Nur vier Minuten später schießt Ballack das Siegtor zum 1:0. In der Kabine weint Ballack.

Als die Tränen getrocknet sind, setzt er sein, jetzt gequältes, Tom-Cruise-Lächeln auf und tritt vor die Medien: "Ich musste es tun, sonst wäre es verdammt gefährlich geworden. Es hätte ein Tor fallen können." In der Nacht habe er "wenig bis gar nicht geschlafen" erzählt er anderntags.

Die "Süddeutsche" würdigt ihn: "Das Foul war ein Selbstopfer aus Staatsraison." Jens Jeremies nimmt den Platz, aber nicht die Position ein.

Die Final-Aufstellung: Kahn - Linke, Ramelow, Metzelder - Frings, Hamann, Jeremies (77. Asamoah), Bode (84. Ziege) - Schneider - Klose (74. Bierhoff), Neuville.

Bemerkenswerte Schlusspointe dieser Weltmeisterschaft: Nicht Ronaldo, mit acht Toren Schützenkönig, sondern Oliver Kahn wird von den Medien zum besten Spieler gewählt und mit dem "Golden Ball" ausgezeichnet. Symbolisches Bild zu dieser ritterlichen Rivalität: Ronaldo zieht Kahn nach einer Parade vom Boden hoch.

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