Ärger im Traumland
München/Marseille - Marseille, sagt Franz Beckenbauer, Marseille, „das war ein Traumland.” Wo der FC Bayern am Mittwoch sein Hinspiel im Viertelfinale der Champions League bestritt, hat der Kaiser mal ein knappes Jahr verbracht. Er sollte also wissen, wovon er spricht, auch wenn es bereits mehr als 20 Jahre zurückliegt. „Es war ja ein kurzer Auftritt, ich hab mir das auch anders vorgestellt”, erinnert sich Beckenbauer an die Saison 1990/91.
Beckenbauer heuerte im September 1990 in Marseille an, ein paar Wochen nach dem Gewinn des WM-Titels mit der deutschen Nationalmannschaft in Rom. „Eigentlich war ich noch erholungsbedürftig”, bekennt er heute. Nur bis zum Dezember arbeitete Beckenbauer als „sportlicher Direktor” mit Assistent Holger Osieck – im Januar 1991 wurde der „Kaiser” von Vereinspräsident Bernard Tapie auf den Posten des „technischen Direktors” weggelobt, der Belgier Raymond Goethals übernahm den Trainerjob.
Beckenbauer mag das ganz gelegen gekommen sein, „ich habe mich sehr wohl gefühlt”, berichtet er über seine Tage in Marseille, „fantastisch” sei es dort gewesen, „schöne Golfplätze” gebe es dort.
Im Juni 1991 aber „war der Zauber wieder vorbei”, tatsächlich erlebte Beckenbauer die ersten Minuten der, wie er es nennt, „schwärzesten Stunde des französischen Fußballs” mit: „Plötzlich kam Polizei auf den Trainingsplatz und hat mir drei Spieler weggeholt.” Besagte drei Spieler standen unter dem Verdacht der Steuerhinterziehung, richtig dick aber kam es 1993 nach dem fünften Meistertitel nacheinander und dem Sieg im Endspiel der Champions League gegen den AC Mailand (1:0), übrigens in München und unter Mithilfe von Rudi Völler. Der Meistertitel wurde OM, wie der Verein in Frankreich nur genannt wird, im Nachhinein aberkannt – Tapie hatte vor dem Punktspiel bei US Valenciennes Bestechungsgelder bezahlt. Es war der Beginn des Absturzes.
Ein Jahr später wurde Marseille in die 2. Liga zwangsversetzt, der exzentrische Tapie 1997 zu einer Haftstrafe verurteilt, der Klub taumelte dem Bankrott entgegen. Mitte 2006 der nächste Skandal: Diesmal ging es um illegale Transaktionen bei den Transfers von Spielern. 13 Personen wurden zu Freiheits- und hohen Geldstrafen verurteilt.
Der Zuneigung der Anhänger tat dies nie einen Abbruch. „Olympique”, erinnert sich Andreas Köpke, „hat fanatische Fans. Die leben für den Fußball. Eine Niederlage sehen sie als persönliche Beleidigung.” Köpke weiß, wovon er spricht, er stand von 1996 bis 1998 bei OM im Tor. „Das war eine tolle Zeit, vom Fußball, aber auch von der Lebensqualität her. Wo andere Urlaub machen, durfte ich Fußball spielen”, berichtet Köpke, der noch immer ein Haus in Marseille sein eigen nennt. Ehe Köpke kam, hatten im Stade Velodrome bereits die deutschen Nationalspieler Karlheinz Förster (1986 bis 1990), Klaus Allofs (1987 bis 1989) und Völler (1992 bis 1994) gespielt. Sie alle wurden Meister – Köpke nicht.
Seit 2006 hat sich Marseille sportlich wieder hochgerappelt, der neunte Meistertitel folgte 2010. So groß die Euphorie um den populärsten Klub Frankreichs ist, so grenzenlos scheint das Anspruchsdenken zu sein. „Wie bei den Bayern herrscht da eigentlich immer der Zwang, gewinnen zu müssen”, sagt Köpke. „Marseille ist die Fußball-Hauptstadt in Frankreich. OM ist ein bisschen vergleichbar mit Bayern”, betont auch Allofs.
Und so schöpfen die OM-Fans aus dem Einzug ins Viertelfinale der Champions League wieder Hoffnung, denn in der Liga hechelt das Team von Didier Deschamps als Tabellenneunter nur hinterher.