Fackelenztünder der Spiele 1972 Günter Zahn: "Da dachte ich, jetzt wirst du gleich gegrillt"

München - AZ-Interview mit Günter Zahn: Der heute 68-jährige Oberzeller durfte 1972 in München das olympische Feuer im Stadion entzünden.
AZ: Herr Zahn, sind Sie irgendwann die Treppen im Olympia-Stadion noch mal hochgelaufen?
GÜNTER ZAHN: Ich war vor vielen Jahren im Olympiastadion, da hab ich mir den Spaß gemacht und bin wieder hoch. Ich kam noch rauf, hatte aber keinen Druck mehr, anders als damals. Jetzt zum Jubiläum sehe ich oft die Bilder von 1972 und denke mit Gänsehaut an dieses einmalige Erlebnis. Da oben zu stehen, die Fackel in der Hand, unter mir das Stadion und 80.000 Menschen, die zu mir schauen, das sind sehr emotionale Erinnerungen.
Man suchte einen Nachwuchsläufer mit elegantem Laufstil
Als Schlussläufer des Fackellaufs ausgewählt zu werden, das hatten Sie einige Wochen zuvor noch gar nicht geahnt.
Überhaupt nicht. Ich war ein 18-jähriger Mittelstreckenläufer aus Niederbayern und fuhr zu den Deutschen Jugendmeisterschaften nach Bielefeld. Sonntagnachmittag saß Willi Daume mit einigen Funktionären auf der Tribüne, sie schauten sich um nach einem Nachwuchsläufer mit elegantem Laufstil, der mit der Fackel nicht nur 300 Meter durchs Stadion läuft, sondern eben auch locker die 162 Stufen nach oben zur Feuerschale meistert. Ein Hammerwerfer oder Kugelstoßer hätte sich da vielleicht schwerer getan.
Stimmt es, dass eigentlich der spätere 800-Meter-Weltmeister Willi Wülbeck als Schlussläufer favorisiert wurde?
Das hatte ich auch gehört. Willi ist wie ich Jahrgang 1954, außerdem kam er in Athen auf die Welt, das hätte einen besonderen Bezug zu Olympia gehabt. Aber dann sah Daume mich die 1.500 Meter gewinnen, danach kam er mit seiner kleinen Delegation auf mich zu und fragte mich. Sie wollten ganz bewusst keinen Prominenten, sondern einen Repräsentanten, der das Treffen der Jugend der Welt verkörpert.
Training mit der Flamme: "Fast täglich, manchmal zweimal am Tag"
Wie oft hatten Sie den Lauf und das Entzünden der Flamme trainiert?
Fast täglich, manchmal zweimal am Tag. Mein Arbeitgeber, die Bereitschaftspolizei, hatte mich dafür freigestellt. Aber je näher der 26. August rückte, umso nervöser wurde ich.
Und von Tag zu Tag gab es auch mehr Aufsehen wegen des sogenannten "Schuhkriegs".
Richtig, ich war kurz zuvor von Adidas zu einem kleinen unbekannten Ausrüster gewechselt, allerdings war Adidas noch Partner des Deutschen Leichtathletikverbandes. Deswegen machte der DLV viel Druck, Verbandschef Dr. Kirsch ermahnte mich, bei der Eröffnungsfeier unbedingt Schuhe des offiziellen Ausrüsters zu tragen. Da habe ich noch den Briefwechsel, die Schreiben habe ich noch nie jemandem gezeigt, bei Ihnen mache ich das jetzt das erste Mal. Der Rest ist bekannt, kurz vor dem Reinlaufen ins Stadion habe ich die drei Streifen an meinen weißen Schuhen mit weißem Klebeband überklebt. Konsequenzen gab es aber zum Glück keine.

Die Anspannung? "Enorm"
Wie groß war die Anspannung dann während des Laufs?
Enorm. Auf der Laufbahn ging es noch, aber hinauf hatte ich große Angst, die Stufen waren unterschiedlich hoch und tief, da musste ich die Schrittfrequenz anpassen. Zu stolpern und hinzufallen, vor 80.000 im Stadion und einer Milliarde am Fernsehen, wäre furchtbar peinlich gewesen. Zum Glück lief's ganz gut, nur war ich zu schnell oben. Es war ja alles auf die Sekunde geplant. Natürlich wurde das Feuer nicht durch meine Fackel entzündet, sondern einen Mitarbeiter, der irgendwo den Gashahn aufdrehte. Weil ich zu früh die Flamme in die Schale hielt, tat sich erst einmal nichts. Es dauerte, bis es brannte. Nur wurde es schnell recht warm, ich musste ja noch einige Zeit in Pose da oben stehen, allerdings stand der Wind ungünstig und blies das Feuer in meine Richtung. Da dachte ich, jetzt wirst du gleich gegrillt.

Niederbayern war bei der Eröffnungsfeier sehr stark vertreten, die Passauer Hürdenläuferin Heidi Schüller sprach den Olympischen Eid.
Dabei war Heidi gar nicht vorgesehen. Eigentlich sollte die Sprinterin Elfgard Schittenhelm die Eidesformel sprechen. Das Problem war nur, wie ich war auch sie blond und hatte blaue Augen.
"Nur weil du blond warst, durfte ich den Eid nicht sprechen"
War das Willi Daume zu viel an Arier-Klischee?
Genau. München 1972 sollte ein bewusster Kontrapunkt zu Berlin 1936 sein, da wollte man bewusst der Welt nicht lauter blonde und blauäugige deutsche Prototypen zeigen. Weil sie sich auf mich als Fackelläufer festgelegt hatten, entschieden sie sich für die dunkelhaarige Heidi Schüller. Als ich die Elfgard mal traf, sagte sie mir: Nur weil du blond warst, durfte ich den Eid nicht sprechen.
Blieben Sie während der Spiele in München?
Natürlich. Ich hatte ein Apartment im olympischen Dorf zusammen mit dem Gold-Achter der Ruderer von 1968, die bei der Eröffnungsfeier die olympische Fahne ins Stadion trugen. Mit meiner Dauerkarte war ich vor allem bei der Leichtathletik, von früh bis spät, fieberte mit Meyfarth, Rosendahl, Wolfermann und Co. Eine überragende Stimmung.
Der Anschlag am 5. September: "Der Tag änderte alles"
Bis zum 5. September.
Der Tag änderte alles. Unser Apartment lag 200 Meter entfernt vom Quartier der Israelis in der Conollystraße. Wir hörten die Schüsse und erfuhren aus dem Radio vom Überfall der Terroristen. Am Vormittag fuhr ich nach Stuttgart, ich hatte dort mein erstes Rennen seit den Jugendmeisterschaften. Als ich nachts auf der A8 heimfuhr, sah ich kurz vor München die Blaulichtkolonnen auf dem Weg zum Fliegerhorst nach Fürstenfeldbruck. Dass die Spiele dennoch fortgesetzt wurden, war sicher die richtige Entscheidung. Die heitere Stimmung freilich war dahin.
Zwölf Jahre später wollten Sie in Los Angeles im Marathon starten, scheiterten knapp an der Qualifikation für Olympia. Jetzt sind Sie seit einigen Jahren im Ruhestand. Wie fit sind Sie denn noch?
Sehr fit, ich gehe viel laufen, fahre mit dem Rad Touren über 180 bis 200 Kilometer. Vor einigen Jahren bin ich sämtliche Alpen- und Pyrenäen-Pässe der Tour de France hoch geradelt, ging noch sehr gut.
Die Fackel haben Sie noch?
Die hat einen Ehrenplatz. Ich schaue mir sehr gerne Eröffnungsfeiern von Olympischen Spielen an, das ist für mich ein sehr emotionaler Moment. Gerade wenn ich zurückdenke an Atlanta 1996, habe ich Tränen in den Augen. Wegen des zitternden Muhammad Ali und der Würde, mit der er trotz seiner schweren Krankheit das Feuer entzündete. Dass ich bei den Fackelschlussläufern in einer Reihe stehen darf mit so großen Persönlichkeiten wie Ali, Cathy Freeman oder Wayne Gretzky, ist sehr bewegend.